Wenn möglich, bitte wenden! 

Der News-Ticker am eigenen Smartphone blinkt im Minutentakt auf. Die politische Landschaft Deutschlands steht am Scheideweg. Nach drei Jahren einer umstrittenen Ampel-Regierung mit wachsender Unzufriedenheit, Inflation und geopolitischen Spannungen stehen nun vorgezogene Bundestagswahlen an. 

Während das Vertrauen in linke Politik schwindet, wird der öffentliche Diskurs zunehmend von rechten Narrativen geprägt. Auf den Sommer der schmerzhaften Landtagswahlen und den hitzigen Haushaltsherbst folgt nun ein Wahlwinter. 

Was bedeutet das für linke Hoffnungen in Deutschland? Ist dies der langersehnte Kurswechsel oder der schmerzliche Abschied von linker Politik?

Die endgültige Erosion linker Politik?

Blaue Herzen in den Kommentarspalten, mittelalte Männer in TikTok-Videos, die ein stolzes Deutschsein predigen, und gruselige Talkshow-Runden sind mittlerweile aus dem politischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Es wird gehetzt, gehasst und immer weiter nach unten getreten. All das wäre jedoch halb so überraschend, wenngleich nicht weniger dramatisch, wenn dieser populistische Dreiklang Menschen rechts der Mitte vorbehalten wäre. Aber nein: Nicht nur Politiker:innen (rechts-) populistischer Parteien tragen zur gesellschaftlichen Diskursverschiebung bei – auch vermeintlich linke Parteifunktionär:innen machen mit bei der Verbreitung von Hass und Hetze. 

Es bleibt nichts anderes zu sagen als: 

Die Linken haben ihr Linkssein verloren!

Im Mittelpunkt der Debatte steht die Asyl- und Migrationspolitik. Denn Migrant:innen waren bekanntlich schon immer die besten Sündenböcke. Reflexartig werden täglich einstige rote Linien überschritten. Jeden Tag versucht irgendjemand aufs Neue seine bisherigen Überzeugungen über Bord zu werfen – alles in der leisen Hoffnung, Wähler:innenstimmen wieder zurückzugewinnen.

So feiert das Magazin Focus den Grünen-Politiker sowie Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir dafür, keine Furcht mehr davor zu haben, die vermeintlichen Tabus seiner Partei anzusprechen – oder besser gesagt, die «grünen Lebenslügen» zu enttarnen1. Es ist sogar von einem «Ausbruch von Vernunft» die Rede, wenn Özdemir sich gegen die Positionen seiner Parteikolleg:innen stellt. Ihm zufolge solle jetzt endlich mit dem positiven Framing von Migration gebrochen werden: Özdemir macht ein für alle Mal klar, Menschen in Deutschland aufzunehmen sei keine nationale Bringschuld und weniger noch würden mehr Sozialarbeiter:innen der Integrationsproblematik helfen. Es scheint ganz so, als wirke es auf den Focus vernünftig, jeden konstruktiven Vorschlag als grüne Ideologie abzuschmettern.

Auch Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck profilierten sich in den letzten Monaten zunehmend als Realist:innen, indem sie versuchten, die Asylpolitik der Ampelkoalition gegenüber der grünen Parteibasis zu verteidigen. Offensichtlich wurde das Ziel, die Grünen nicht länger als Bremse innerhalb der Ampelkoalition wahrzunehmen, höher gewichtet als die Verteidigung der parteiinternen Prinzipien.

Bei der SPD sieht es nicht besser aus. Noch vor drei Jahren herrschte die Hoffnung, dass es mit einem sozialdemokratischen Kanzler die Bundespolitik nur linker werden könne. Doch die Ernüchterung setzte schneller ein, als den meisten lieb war. In den letzten Jahren entwickelte sich  das Gefühl der Ernüchterung bei vielen zu Frustration und Fassungslosigkeit.

Es ist schwer zu sagen, ob der Kurs der SPD von purem Opportunismus oder einer strategischen Rechtswende geprägt ist – wahrscheinlich von beidem etwas. Innenministerin Nancy Faeser etwa, die sich noch im letzten Jahr klar gegen Grenzkontrollen aussprach, hat inzwischen offenbar keinerlei Bedenken mehr, genau diese einzuführen. Und Kanzler Olaf Scholz erwog zwischenzeitlich, das mühsam errungene Lieferkettengesetz zu kippen, um Spitzenvertreter:innen aus der Wirtschaft für sich zu gewinnen. Die Profillosigkeit, die man lange der Union, allen voran Markus Söder, vorgeworfen hat, ließe sich eins zu eins auf vermeintlich linke Parteien übertragen.

Ampel auf Rot!

Jetzt wird also früher gewählt, als regulär geplant. Das Projekt «Ampel» ist gescheitert. Die Frage, die sich nun aufdrängt, ist

Wie reagieren SPD und Bündis90/Die Grünen auf die frühzeitige Bundestagswahl? Welchen politischen Kurs werden diese Parteien links der Mitte einschlagen: Blinker rechts oder Blinker links?

Es ist also abzuwarten, ob sie zu progressiven Forderungen zurückkehren bzw. diese nach jahrzehntelangem Vernachlässigen wieder für sich entdecken, sobald der Krisenmanagementmodus aus- und der Wahlkampf-Modus eingeschaltet wird. Oder bleibt es bei einem Kurs, der in erster Linie Stimmen sichern soll – koste es, was es wolle? 

Die Überzeugungskraft linker Politik steht dabei auf dem Spiel. Denn was bleibt von Parteien, die nur im Wahlkampf zu ihrem Linkssein zurückfinden? Und was würde das über die Glaubwürdigkeit linker Parteien in Regierungsverantwortung allgemein aussagen?

Sollte der Rechtsruck innerhalb vermeintlich linker Parteien jedoch bestehen bleiben, wäre das mehr als nur eine Anpassung an die politischen Umstände: Es wäre der endgültige Abschied vom Anspruch, anhand linker Politik gesellschaftliche Ursachen strukturell zu bekämpfen. 

Mehr Leerlauf als Fortschritt 

In den letzten Jahren hat sich die politische Landschaft zunehmend nach rechts verschoben, während die Linke ihren Einfluss und ihre Stimme für tiefgreifende Reformen zu verlieren scheint. Es braucht einen klaren Kurswechsel hin zu progressiver Politik, die echte Lösungen statt symptombekämpfender Provisorien bietet.

Der Leerlauf – In den letzten Jahren lief der politische Betrieb zwar weiter, die großen Fragen und Ungerechtigkeiten wurden jedoch nicht angegangen. Eine Koalition, bestehend aus zwei linken Parteien, die sich das Ziel gesetzt haben, «mehr Fortschritt» zu wagen, hat rückblickend reagiert, anstatt aktiv zu handeln. Das ist nicht weiter verwunderlich. Denn anders ist es auch nur schwer möglich, wenn man über die eigentlichen Ursachen der Probleme hinwegschaut. 

Stattdessen lieferten sich in den letzten Monaten zunehmend Politiker:innen unterschiedlicher Parteien in Talkshows, Zeitungen und Sozialen Medien einen Überbietungswettbewerb an politischen Ideen, die mehr einer verzweifelten Symptombekämpfung als konstruktiven Lösungsvorschlägen glichen.

Die Ausgangssituation Spätestens seit den Ergebnissen der jüngsten Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg haben es auch die sonst so Unpolitischsten im Land verstanden. Faschismus ist kein historisches Phänomen, sondern wieder als fester Bestandteil unserer politischen Gegenwart verankert. 

Hinzu kommt, dass linke Parteien sich nicht nur am populistischen Wortschatz und an der rechten Ideenkiste bedienen, sondern zunehmend eine schwindende Rolle spielen. Sie wurden endgültig abgelöst von (rechts-) populistischen Kontrahenten. 

Dabei zeigt die Realität, dass eine linke, demokratische Politik bitter notwendig ist. Eine im Februar dieses Jahres veröffentlichte Studie2 befasst sich mit den größten Sorgen der Menschen in Deutschland. Die Top 4 der deutschen Sorgen bestehe demnach aus: Inflation (37%), Einwanderung (35%), Armut/Soziale Ungleichheit (34%) und Klimawandel (21%). Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung3 von diesem Oktober kommt auf leicht abweichende Ergebnisse: Als größte Bedrohungen nennen die Deutschen im Jahr 2024 die «Spannungen zwischen Europa und Russland» (69%) auf dem ersten Platz, auf Platz 2 «Fremdenfeindlichkeit in Deutschland» (63%) und auf Platz 3 «die AfD/Rechtsruck der Gesellschaft» (62%). An vierter Stelle wird der Klimawandel (59%) genannt. Die Sorge um «steigende Preise in Deutschland» war laut der dieser Studie im Jahr 2023 noch mit 64% auf Platz 4 – hat aber anscheinend mit diesem Jahr an Bedeutung abgenommen. 

Die Symptome – Aber anstatt die Sorgen der Bürger:innen ernst zu nehmen und demokratische Lösungen zu erarbeiten, wurde sich in den letzten Monaten vielmehr damit zufrieden gegeben,  den Status Quo zu verwalten und sich vom rechten Sog mittragen zu lassen: 

  • Die Menschen sorgen sich um die Inflation – das Bundeslandwirtschaftsministerium beschwerte sich darüber, dass die Lebensmittelpreise hierzulande zu niedrig seien und zeitgleich plante das Bundesfinanzministerium eine Steuerreform, von der vor allem Singles und Gutverdiener:innen profitieren4. Während ärmere Haushalte weiterhin überdurchschnittlich unter der Inflation leiden, schütten DAX-Konzerne ihren Anteilseigner:innen Rekordsummen aus. 
  • Die Menschen sorgen sich um das steigende Armutsrisiko und wachsende soziale Ungleichheit – das Bundesarbeitsministerium kündigte eine Nullrunde beim Bürgergeld für 2025 an, die Kindergrundsicherung und die Rentenreform lassen weiter auf sich warten und notwendige Investitionen in die Infrastruktur des Landes wurden in den letzten Jahren mit dem verzweifelten Festhalten an der Schuldenbremse verhindert. 
  • Die Menschen sorgen sich um die Spannungen zwischen Europa und Russland – sogenannte ostdeutsche Spitzenpolitiker Woidke, Vogt und Kretschmer ließen sich von Sahra Wagenknecht vor den Karren spannen und veröffentlichten einen FAZ-Gastbeitrag, in dem sie eine «ostdeutsche Initiative zur Friedensdiplomatie»5 darlegen. Oh Wunder, die deutsche Außenpolitik lässt sich nicht in Landtagen bestimmen und die ersten Sondierungsgespräche mit dem BSW in Sachsen sind gescheitert. Dass jedoch Diplomatieversuche mit einem Diktator wie Putin mehr einem Hirngespinst gleichen als einem Schritt zur europäischen Friedenssicherung, wird dabei vollkommen außer Acht gelassen und kann den Bürger:innen in den Bundesländern anscheinend nicht wirklich vermittelt werden.
  • Die Menschen sorgen sich um Fremdenfeindlichkeit und Rechtsruck – das Bundesinnenministerium brachte stattdessen ein Sicherheitspaket auf den Weg, dass die AfD nicht besser ermutigen könnte, sich die nächsten verfassungsfeindlichen Pläne zu überlegen. 
  • Die Menschen sorgen sich um Einwanderung – statt eine konstruktive Debatte über migrationspolitische Herausforderungen wie Integration und die Überbelastung von Kommunen zu führen, häuften sich destruktive Vorschläge, das Asylrecht einfach per se infrage zu stellen, Grenzkontrollen zu verschärfen und vor allem «im großen Stil abzuschieben». 

Die Ursachen – Es stellt sich die Frage danach, wieso es der Ampel-Koalition, vor allem den beiden «linken» Koalitionsparteien, nicht gelungen ist, den Ängsten der Bürger:innen mit einer progressiven und ganzheitlichen Agenda zu begegnen? Unmöglich ist das jedenfalls nicht. Denn beim alleinigen Anblick der größten Ängste im Land könnte man meinen: Die Zeit für linke Antworten ist endgültig gekommen. Ein Aufschwung konsequent linker Politik stünde bevor! 

Aber nein, man treibt mit dem rechten Strom, man reiht sich ein, man bedient das gleiche, rechte Narrativ: Schuld sind immer die sozial Schwächeren. Sei es die Ukraine, die doch jetzt einfach mal das Friedensbedürfnis der Deutschen mit einer Kapitulation befriedigen solle, oder die Geflüchteten, denen man pauschal die Verantwortung für überforderte Kommunen und steigende Mieten zuschiebt. 

Denn darüber zu sprechen, inwiefern vor allem strukturelle Versäumnisse und jahrelange Fehlentscheidungen Grund für den Status Quo sind, liegt den meisten mehr als nur fern. 

Die Entscheidung Der rechte Sog zieht die politische Landschaft stetig weiter auf seine Seite, während ein linkes Vakuum entsteht, in dem klare, progressive Antworten fehlen. Das Ergebnis ist ein Kreislauf, in dem Ursachen und Symptome miteinander verschmelzen und in einem endlosen politischen Stillstand verharren.

Frühzeitige Bundestagswahlen hin oder her: Die parteipolitischen Linke müssen sich jetzt entscheiden, ist es Zeit für einen Neuanfang, für eine Kehrtwende, die den Status Quo verlässt und den Mut aufbringt, das linke Vakuum zu füllen und nachhaltige Antworten zu liefern? Oder bleibt man beim bisherigen Kurs, der von etwas zwischen strategischem Rechtsruck und verzweifeltem Opportunismus angetrieben wird? 

Neues linkes Zuhause gesucht!

All diese Entwicklungen gehen nicht spurlos an den Parteistrukturen vorbei. Vor allem in den Reihen der Parteijugenden rumort es. Wachsende Unzufriedenheit über die anhaltende Kursverschiebung bringt sowohl Jusos als auch Grüne Jugend-Mitglieder zunehmend in Konflikt mit ihren Mutterparteien. Zwar waren die jungen Parteimitglieder schon immer das linke Gewissen der jeweiligen Partei, aber auch denen geht irgendwann die Puste aus. 

Denn wie lange wird der Geduldsfaden halten, wenn jenes linke Gewissen – trotz Regierungsbeteiligung der Partei – keinerlei Einfluss auf politische Ergebnisse nehmen kann? Da ist die Verbindung zur Mutterpartei schnell mal mehr kritisch als solidarisch. 

So beklagen die Jusos offen den Verlust sozialdemokratischer Werte und rufen unter sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten dazu auf, gegen das Sicherheitspaket von Kanzler Olaf Scholz zu stimmen.6 Aber das ist sicher nicht die radikalste Form, wie eine Jugendorganisation Kritik gegenüber dem Kurs der eigenen Partei äußern kann. Der ehemalige Bundesvorstand der Grünen Jugend ging einen Schritt weiter: Enttäuscht über die zunehmende Staatsnähe und die Kompromisse in der Ampel-Koalition, haben einstige grüne Nachwuchspolitiker:innen die Partei geschlossen verlassen und eine neue Bewegung gegründet – «Zeit für was Neues 2024». 

Es wird deutlich: Die Unzufriedenheit mit der Ampel-Politik unter den politischen Jugendorganisationen ist ähnlich groß, die politische Konsequenz, die aus dieser Unzufriedenheit resultiert, unterscheidet sich jedoch deutlich voneinander. 

Um diesem jugendlichen Unmut in verschiedenster Form auf die Spur gehen zu können, wurden Vetreter:innen der Jusos, der Grüne Jugend und «Zeit für was Neues 2024» für ein Interview angefragt. Während sich der Bundesvorstand der Grüne Jugend dagegen entschieden hat, auf die gestellten Fragen zu antworten, hatte es «Zeit für was Neues 2024» nicht rechtzeitig geschafft, zu antworten. Für die Jusos hat der Bundesvorsitzende Philipp Türmer auf die Fragen geantwortet. 

«Zeit für was Neues 2024» ist demnach nicht mehr bereit dazu, ihren Kopf für eine «falsche Politik»7 hinzuhalten. Die Jusos und die Grüne Jugend hingegen schon? 

Zwar sind die Jusos weiterhin entschlossen, den Reformweg innerhalb der SPD zu beschreiten, dennoch kann Philipp Türmer die Frustration der jungen Generation nachvollziehen: «Bezahlbare WG-Zimmer, moderne Schulen, eine nachhaltige Wirtschaft und sichere Jobs. Die Ansprüche junger Menschen sind nicht hoch. Doch nicht einmal diese werden ansatzweise erfüllt. Und das Frustrierende: selbst bei einer SPD-geführten Regierung ist das der Fall. Statt die Zukunft zu gestalten, geht es meist nur darum, die Gegenwart zu verwalten – und auch das gelingt mehr schlecht als recht.»

Im Gegensatz dazu haben sich die Mitglieder von «Zeit für was Neues 2024», darunter die ehemaligen Grüne-Jugend Vorsitzenden Svenja Appuhn, Katharina Stolla und Sarah-Lee Heinrich, gegen den Weg der innerparteilichen Reform entschieden. Sie schreiben auf ihrer Webseite, dass «die Grünen zunehmend […] den Status quo verwalten» und «immer mehr zu einer Partei werden wie alle anderen.»8 Zudem glaubten sie nicht mehr daran, dass innerhalb der Grünen ein Kurswechsel möglich sei, und argumentieren, dass für wirkliche Veränderungen ein radikaler Bruch notwendig sei.

Hingegen sehen die Jusos trotz der frustrierenden Regierungspolitik weiterhin Hoffnung im innerparteilichen Diskurs:  «Ich bin der Meinung, dass man zwischen der aktuellen SPD-Regierungspolitik und den Beschlüssen, die auf Bundesparteitagen gefasst werden, unterscheiden muss. Denn in der Partei gibt es immer wieder ein Aufflammen der richtigen Debatten. Nicht umsonst wurden zum Beispiel mit der Vermögensabgabe auf dem letzten Bundesparteitag auch tiefgreifendere Beschlüsse gefasst, als das, was wir sonst im täglichen politischen Alltag sehen. Für diese Umsetzung müssen wir nun kämpfen», so Türmer.

Ebenso setzt die neue Führung der Grünen Jugend, bestehend aus Jakob Blasel und Jette Nietzard, auf eine Strategie der innerparteilichen Veränderung. Blasel kritisierte in einem Interview mit dem Spiegel die Politik der Grünen scharf und machte klar, dass sie unter anderem die geplanten Abschwächungen des Lieferkettengesetzes nicht unterstützen:  «Lieber Robert, Grüße aus Leipzig, wir tragen diese Politik nicht mit.»9 Auch Nietzard drückte deutlich aus, dass die Grünen Jugend die Grünen dazu drängen werde, stärker auf die Jugend zu hören und weniger rechte Narrative zu übernehmen, besonders in der Asylpolitik.

Auf die Frage, ob die Jusos jemals über einen radikalen Schnitt, wie eine Neugründung, nachdenken würden, bleibt Türmer diplomatisch, betont aber den Anspruch der Jusos, innerhalb der SPD für eine progressive Politik zu kämpfen: «Ich glaube an linke Sammlungsbewegungen. Das bedeutet auch, dass ich mich nicht einfach zurückziehe, wenn der Gegenwind zunimmt. Ich glaube, der Anspruch innerhalb der SPD für linke und progressive Politik zu kämpfen, eint viele in unserem Verband. Mit all diesen Menschen werden wir gemeinsam immer und immer wieder laut sein.»

Im Gegensatz dazu war der Abgang des ehemaligen Grünen Jugend-Bundesvorstands weniger diplomatisch. Die aktuelle Grüne Jugend-Bundesvorstand beschreibt den Parteiaustritt als «undemokratisch» und warf dem alten Vorstand vor, in aller Stille aus der Partei ausgetreten zu sein, ohne eine gemeinsame Abstimmung auf dem Bundeskongress ermöglicht zu haben. Auf dem Bundeskongress der Grünen Jugend im Oktober wurde dieser Abgang ebenfalls bemängelt: So warfen Verbandsmitglieder den «Abtrünnigen» vor, dass es ihnen «nur um sich selbst, aber nicht um das Wohl der Grünen Jugend gegangen sei»10 – da nicht einmal die eigenen Landesvorstände über den geschlossenen Parteiaustritt vorab in Kenntnis gesetzt worden seien.  

Zwischen Kompromiss und Konsequenz

Die Spannungen innerhalb der sozialdemokratischen und grünen Jugendorganisationen zeigen deutlich, dass der Kampf für progressive Werte und echte Veränderung zu einer Zerreißprobe geworden ist.Mit Blick auf die anstehenden Neuwahlen drängt sich abschließend eine entscheidende Frage auf: Wie kann das linke Vakuum, das die Ampel-Koalition hinterlassen hat, endlich sinnvoll gefüllt werden? 

Neugründungen und Zusammenschlüsse linker Gruppierungen, wie es «Zeit für was Neues 2024» vormacht? Oder doch die altbekannte Route des innerparteilichen Reformwegs, den die Jusos und die Grüne Jugend trotz allem weiter beschreiten?

Diese Frage lässt sich bisher wohl nicht ein für alle Mal beantworten. Eines steht dennoch fest: 

Linke Politik braucht frischen Wind, progressive Köpfe, die nicht nur ihren Platz im Parlament suchen, sondern auch den politischen Betrieb wachrütteln. 

Zwar sind vor drei Jahren bereits viele junge Parteimitglieder der SPD und Grünen in den Bundestag eingezogen, und auch heute wird beispielsweise mit dem Slogan «Jusos in die Parlamente» für junge Köpfe in verantwortungsvollen Positionen geworben. Doch wie sinnvoll ist dieser Weg noch, wenn viele der Abgeordneten doch nicht jenes linke Gewissen im parlamentarischen Alltag erfolgreich und konsequent umsetzen können?

Philipp Türmer entgegnet dem: «Wir Jusos verfolgen nicht umsonst die Doppelstrategie [aus Partei- und Bewegungspolitik] und wollen junge, linke Stimmen sowohl im Parlament als auch auf der Straße stärken. Aber es ist natürlich klar, dass wir uns sehr genau anschauen, wie stabil Juso-Abgeordnete bei relevanten Abstimmungen geblieben sind. Es ist nicht für uns hinnehmbar, wenn Abgeordnete ständig ihre ‹Bauchschmerzen› formulieren und dann trotzdem bei der Abstimmung umfallen.»

Die Neugründung von «Zeit für was Neues 2024» beweist, dass der Geduldsfaden vieler junger, linker Menschen gerissen ist – der Ruf nach einem radikalen Bruch mit dem System, das mit Kompromissen und Staatsnähe auf jegliche Ideale verzichtet, ist lauter denn je. Es wird sich zeigen, ob der Reformweg oder der radikale Bruch den Nerv der Zeit treffen. Doch klar bleibt: Der nächste Bundestag braucht dringender denn je Köpfe, die bereit sind, Haltung zu zeigen – sowohl im Parlament als auch auf der Straße.

1 https://www.focus.de/politik/meinung/analyse-von-ulrich-reitz-wie-oezdemir-mit-migrations-text-gleich-reihenweise-gruene-lebensluegen-enttarnt_id_260356156.html.

2 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/180147/umfrage/groesste-sorgen-der-deutschen/.

3 https://www.kas.de/de/monitor-wahl-und-sozialforschung/detail/-/content/sorgen-und-aengste-der-waehlerschaft-ergebnisse-aus-repraesentativen-umfragen.

4 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/steuer-inflation-lindner-fdp-ampel-spd-kindergeld-familien-kinderfreibetrag-lux.EJE7188YujKQ3LTKrFuqhs.

5 https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/reaktionen-bsw-faz-woidke-kretschmer-voigt-frieden-diplomatie-ukraine-100.html.

6 https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/jusos-kritik-scholz-100.html.

7 https://zeitfuerwasneues2024.de.

8 https://zeitfuerwasneues2024.de.

9 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruene-jugend-jette-nietzard-und-jacob-blasel-schwarz-gruen-ist-ein-albtraum-fuer-die-zukuenftigen-generationen-a-9394e142-b9c8-4aa8-a101-3add74970a69.

10 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruene-jugend-jette-nietzard-und-jacob-blasel-schwarz-gruen-ist-ein-albtraum-fuer-die-zukuenftigen-generationen-a-9394e142-b9c8-4aa8-a101-3add74970a69.