Von Nachbarschaftsfest zu Springerstiefeln – Rechte Hegemonie im ländlichen Raum

Junge Männer, die in Springerstiefeln an der Bushaltestelle vorbeilaufen oder Rechtsrock grölend am Bahnhof stehen. Hakenkreuze zwischen «Fck Antifa»-Graffiti, ab und zu auch mal an Schulwänden. AfD-Plakate an jeder dritten Laterne, die der Freien Sachsen an jeder zweiten. Und schaut man genauer hin: Hier ein Sticker «Umweltschutz aus Heimatliebe» und dort einer: «Es ist okay weiss [sic] zu sein».

Das ist Alltag auf dem Land. Alltag für die Menschen, die in 400-Einwohner*innen-Dörfern aufwachsen oder ihr gesamtes Leben in einer Gemeinde verbringen, von der in der nächsten Großstadt niemand weiß, dass sie überhaupt existiert. Und auch wenn man nicht pauschal von ‹dem ländlichen Raum› sprechen kann: Es ist schon fast Tradition, dass das ‹Hinterland› – gerade in den ostdeutschen Ländern – immer wieder die höchsten Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien aufweist. Rechte Graffiti, nationalistische Musik und rassistische Äußerungen beim Nachbarschaftsplausch sind dabei nur die Spitze des Eisberges. Dahinter steht mehr.

Rechte und rechtsextreme Akteure verfolgen seit Jahren eine langfristige Strategie: Durch die ideologische Prägung von Kunst, Kultur, Sport, Freizeit und Bildung – dem sogenannten vorpolitischen Raum – versuchen sie, kulturelle Hegemonie zu erreichen.1 Erklärtes Ziel ist es, durch kulturelle Prägung und Themensetzung im zivilgesellschaftlichen Bereich an die Macht zu kommen. Diese metapolitische Ausrichtung der Rechten geht ironischerweise ausgerechnet auf den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci und seine Theorie der Kulturellen Hegemonie zurück.2

In der modernen Gesellschaft gehen Macht und Hegemonie Hand in Hand. Macht ausüben kann nur, wer auch über Hegemonie verfügt. Und diese Hegemonie beruht – anders als physische Zwangsgewalt – auf Überzeugung. Nur wenn eine revolutionäre Klasse schon vor Erlangung der Regierungsmacht in der Gesellschaft führend ist – also die Mehrheit der Menschen von sich überzeugen konnte – hat sie wirklich eine Chance an die Macht zu kommen und diese auch zu erhalten.3
Mit dem Begriff der kulturellen Hegemonie überträgt Gramsci dieses Konzept auf die Zivilgesellschaft: In zahlreichen gesellschaftlichen Institutionen, ob in Vereinen,      Kirchen oder den Medien, wird um die Zustimmung der Mehrheit zu einer bestimmten Lebensweise gekämpft. Wer es schafft, möglichst viele Menschen für sich zu vereinnahmen, trägt die Hegemonie und hat damit die breite Unterstützung «von unten».4 Unter dem Namen ‹Gramsci-Taktik› wurde diese Idee nach 1968 von den ‹Neurechten› mit dem Ziel aufgegriffen, die ideologische Vormachtstellung im vorpolitischen Raum zu erlangen und so die Grundlage für die Übernahme von Macht in der politischen Sphäre zu legen.5

Rechte im Dorf. Rechte im Rathaus. Rechte überall.

Aber wie sieht diese rechte Hegemonie konkret aus? Eben nicht wie das Offensichtliche – rechte Hegemonie braucht keine Springerstiefel oder rechtsextreme Inszenierungsformen. Viel eher findet sie Ausdruck im Nachbarschaftsfest mit Hüpfburg, wo man sich beim gemeinsamen Bier über ‹die Ausländer› aufregen kann. Im NPD-Parteibüro (heute: ‹Die Heimat›), das neben einer Bibliothek auch eine kostenlose Rechtsberatung anbietet.6 Oder im einzigen Fußballverein im Umkreis, wo man nach dem Spiel gemeinsam mit dem Trainer die im (neu)rechten Milieu beliebten «Dorfrocker» hört. Rechtsextreme Organisationen versuchen, sich als sympathische ‹Kümmerer› in die Dorfgemeinschaft zu integrieren und so eine Normalisierung ihrer Ideologie in der Mitte der Gesellschaft zu erreichen.7

An genau diesem Punkt muss man ansetzen, möchte man die Frage beantworten, warum der Rechtsruck gerade auf dem Land stattfindet. Nicht nur hier finden sich Strukturen rechter Hegemonie. Und doch herrscht in Dorf- und Kleinstadtgemeinschaften eine Umwelt vor, die die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen begünstigt.
Viele ländliche Räume sind durch Abwanderung, Überalterung und eine schrumpfende soziale Infrastruktur geprägt.8  Gut ausgebildete junge Menschen, vor allem Frauen, verlassen die Region. Dieses Problem tritt nicht ausschließlich, aber gerade in Ostdeutschland auf und sorgt für enorme Frustration. Durch die Umstellung auf ein neues Wirtschaftssystem nach der Wiedervereinigung und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit, haben ostdeutsche Dörfer ihre Rolle als Integrationsmotor und Lebensmittelpunkt verloren. Borstel spricht dabei von einer «doppelten Revolution», die bis heute nicht kompensiert werden konnte. Generell sind ökonomische Unsicherheiten auf dem Land stets eng verknüpft mit der Frage der Demokratiezufriedenheit und so schwappen verbreitete Existenzängste und wirtschaftliche Sorgen schnell in Demokratieenttäuschung über.9
Fehlende Infrastruktur, mangelnde Kulturangebote und ein Gefühl des ‹abgehängt Seins› und ‹Vergessenwerdens› sorgen schließlich dafür, dass es auf dem Land eine Lücke gibt, die lange Zeit niemand füllen wollte – außer den Rechten. Diese gerieren sich als die Einzigen, die noch Interesse an der Region zeigen. Gepaart mit vermeintlich einfachen Erklärungen für prekäre Lebenssituationen, Einbringung in Nachbarschaftsaktionen und zivilgesellschaftlichem Engagement schaffen sie es, eine große Zahl an Menschen für sich zu begeistern.10  Sie sind auf dem besten Weg, kulturelle Hegemonie zu erreichen, haben es in einigen Regionen schon geschafft.

Ganz dem Klischeebild alter Serien und Filme entsprechend, sind Dorfgemeinschaften eine Welt für sich. Innerhalb dieser läuft vieles nach ungeschriebenen Regeln ab: Da gibt es Menschen, die jeder kennt, wie etwa den örtlichen Hausarzt, mit dem man sich gut stellen sollte. Und wenn man dazugehören will, sollte man mindestens beim jährlichen Silvestergrillen vorbeischauen. Offene Einflussversuche von außen durch ‹Fremde› – in Ostdeutschland im schlimmsten Fall auch noch ‹Wessis› – werden oft vehement abgewehrt.11 Gelingt es rechtsextremen Gruppen aber, sich als Teil der Gemeinschaft zu etablieren, eben durch ehrenamtliches Engagement oder einfaches Hineingeborensein, richtet sich die Ausgrenzung nicht gegen sie. Manch einer mag ihre rassistischen und antisemitischen Äußerungen dann doch etwas übertrieben finden – darüber wird aber hinweggeschaut, wenn es sich bei dem Äußerer um den netten Hausarzt, die Mutter der Kindergartenfreundin der Tochter oder den jungen Mann von der Freiwilligen Feuerwehr handelt. Der Rechtsextreme ist eben immer auch Nachbar. Und so weiß man ihn viel eher zu schätzen, weil er einem jeden Sonntag Brötchen mitbringt. Die politische Einstellung wird da eher hingenommen, im schlimmsten Fall auch übernommen.

Kommt es zu einem Skandal, beispielsweise wenn ein Ort als ‹Nazidorf› Schlagzeilen macht, führt das meist dazu, dass diese Gemeinschaft noch näher zusammenrückt. Demokratieförderungsmaßnahmen werden dann als Eingriffe von außen wahrgenommen. Sie widersprechen einer Kultur des ‹unter sich Ausmachens›, die in Regionen, wo jeder jeden kennt, noch immer dazu gehört.12
Eben diese Kultur führt auch dazu, dass Wahlerfolge rechtsextremer Parteien wie der AfD nicht diskutiert werden. Statt sich innerhalb der Gemeinschaft mit diesen auseinanderzusetzen, werden sie mit einem schulterzuckenden «Ist halt so» einfach hingenommen. Gerade in dieser Situation sind auch die demokratischen Kräfte in der Verantwortung.13 Regionen wie der Saale-Orla-Kreis, wo die AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen ihr bestes Ergebnis einfuhr, oder die Oberlausitz, die vor allem wegen Reichsbürgerdörfern oder rechtsextremen Festivals in den Schlagzeilen landet, werden oft als längst verloren angesehen. Ein Umgang, der den Rechten vor Ort in die Hände spielt und die wenigen demokratischen Stimmen, die es gibt, auf sich allein gestellt zurücklässt.
Menschen, die innerhalb ihrer Dorf- oder Kleinstadtgemeinschaft für Demokratie und gegen rechts einstehen, laufen Gefahr, sozial isoliert zu werden. Die Bezeichnung ‹Nestbeschmutzer› geht rasant durch die Münder und aus Sorge davor, im eigenen Zuhause ausgegrenzt zu werden, überlegt man lieber zweimal, ob man der fremdenfeindlichen Hetze des Nachbarn wirklich etwas entgegnen sollte.14

Etablieren sich die Rechten schließlich in der Gemeinschaft, werden ihre Positionen als selbstverständlich angesehen und traut sich niemand mehr, öffentlich etwas dagegen zu sagen, dauert es nicht mehr lange, bis auch Springerstiefel, SS-Tattoos und Hakenkreuze an den Wänden Alltag sind.

Ist das ‹Hinterland› verloren? Nicht ganz.

Die wachsende rechte Hegemonie stellt eine der größten Bedrohungen für unsere Gesellschaft dar, denn sie geschieht direkt vor unseren Augen, ohne dass ihr in den letzten Jahren wirklich etwas entgegengesetzt werden konnte. Nichtsdestotrotz gibt es auch immer wieder Regionen, in denen demokratische Kräfte die Deutungsmacht zurückgewinnen konnten, nicht zuletzt durch das unermüdliche Engagement der Menschen vor Ort. Dass dies möglich ist, zeigten beispielsweise die zahlreichen Anti-AfD-Demos Anfang des Jahres, die auch in Kleinstädten und Dörfern großen Zuspruch fanden.
Um der bewussten Strategie der Rechten etwas entgegensetzen zu können, braucht es eine starke Zivilgesellschaft vor Ort: Demokratisches Engagement muss aktiv gefördert werden. Gerade die Jugendarbeit ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung.15 Jugendzentren, die wie in Leisnig Kinder und Jugendliche zusammenbringen16 oder das Jugendfestival in Sandförstgen, das, trotz rechter Angriffe, einen diskriminierungsfreien Raum bietet17, sind da nur einige Beispiele.
Weite Wege und die schlechte Anbindung von Ortschaften stellen auf dem Land eine zusätzliche Herausforderung dar, denn sie sorgen dafür, dass außerschulische Aktivitäten – selbst wenn vorhanden – schwierig zu erreichen sind. Eine Lösung dafür könnte die stärkere Einbindung politischer Bildung in den Schulen und Kooperationen dieser mit zivilgesellschaftlichen Initiativen sein. Oder aber man packt das Problem direkt an der Wurzel durch die Schaffung von Begegnungs- und Bildungsstätten auch in kleinen Orten oder den Ausbau von Bus- und Zuganbindungen. Dafür sind Investitionen in den ländlichen Raum, wie sie in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgefahren wurden, dringend notwendig.

Auch außerhalb der Jugendarbeit kann das zivilgesellschaftliche Engagement gefördert werden, indem man Menschen, die sich für Demokratie einsetzen wollen, unterstützt – etwa durch Beratungen zum Ausschluss von Mitgliedern mit rechtsextremistischen Einstellungen aus Vereinen oder durch die gemeinsame Erarbeitung kommunaler Aktionspläne gegen rechts.18
Die Schaffung von Diskursräumen und das Ausprobieren neuer Formen politischer Mitbestimmung, beispielsweise durch Bürgerforen und Zukunftswerkstätten, können dafür sorgen, dass die Menschen sich wieder für die Demokratie begeistern. Denn wo sonst ist es so einfach mitzureden, wie in der eigenen Kommune?19

Es gibt also durchaus noch Hoffnung für den ländlichen Raum. Und schaut man etwas genauer hin, dann hört man ab und zu auch gute Nachrichten. Wie aus Ostritz, wo sich seit mehreren Jahren erfolgreich gegen ein rechtsextremes Musikfestival gewehrt wird (und ja, auch den Nazis das Bier wegzukaufen kann helfen).20 Oder aus dem Saale-Holzland-Kreis, wo eine antifaschistische Initiative versucht, durch Diskussionsrunden und Spieleabende mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.21 Wichtig bleibt nur: das ‹Hinterland› und die Menschen, die sich dort engagieren, dürfen nicht vergessen werden.

1 Lars Hendrik Beger, Kampf um kulturelle Hegemonie: Wie die Neue Rechte sich der Popkultur bedient, https://www.deutschlandfunkkultur.de/neue-rechte-popkultur-kulturelle-hegemonie-100.html (Zugriff: 26.10.2024).

2 Claus Leggewie, Kulturelle Hegemonie — Gramsci und die Folgen, in: Leviathan (Düsseldorf) 2/1987, S. 285–304.

3 Ebd.

4 Ines Langemeyer, Antonio Gramsci: Hegemonie, Politik des Kulturellen, geschichtlicher Block, in: Schlüsselwerke der Cultural Studies, p.72-82, Wiesbaden, S. 72–82; Nikodem Skrobisz, Kulturelle Hegemonie, https://freiheitslexikon.de/kulturelle-hegemonie/ (Zugriff: 26.10.2024).

5 Kampf um die kulturelle Hegemonie: Die extrem rechte Organisation Ein Prozent und die AfD, in: Indes 3/2019, S. 101; Leggewie (Anm. 2).

6 Dierk Borstel, Rechtsextremismus und Demokratieentwicklung im ländlichen Raum – ein Update am Beispiel Vorpommern, in: Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit 1/2018, S. 113–125.

7 Thomas Stimpel/Thomas Olk, Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus in ländlichen Räumen. Probleme und Handlungsstrategien, in: Gesellschaft Wirtschaft Politik 1/2012, S. 35–44.

8 Titus Simon, Was begründet rechtspopulistische Wahlerfolge in ländlichen Räumen?, in: Ländlicher Raum 02/2017, S. 32–35.

9 Borstel (Anm. 6).

10 Stimpel/Olk (Anm. 7).

11 Simon (Anm. 8).

12 Ebd.

13 Borstel (Anm. 6).

14 Stimpel/Olk (Anm. 7).

15 Ebd.

16 Henrike Freytag/Lucas Schwarz, Du musst nicht bis Leipzig oder Dresden ziehen, um eine coole Jugend zu haben, mdr.de, https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/leipzig/grimma-oschatz-wurzen/jugendclub-laendlicher-raum-leute-treffen-musik-handwerk-rechtsruck-100.html (Zugriff: 10.11.2024).

17 Charlotte Sauerland, Ein Schutzraum und Freiraum für Jugendliche in Ostsachsen, Amadeu Antonio Stiftung, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/ein-schutzraum-und-freiraum-fuer-jugendliche-in-ostsachsen-102147/ (Zugriff: 10.11.2024).

18 Stimpel/Olk (Anm. 7).

19 Ebd.

20 Lea Wolters, Ostritz: Eine Stadt wehrt sich erfolgreich gegen Nazis, Amadeu Antonio Stiftung, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/ostritz-eine-stadt-wehrt-sich-erfolgreich-gegen-nazis-105159/ (Zugriff: 10.11.2024).

21 Sebastian Haak, Thüringen: Mit Kaffee und Kuchen gegen rechts, nd-aktuell, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183720.rechtsruck-thueringen-mit-kaffee-und-kuchen-gegen-rechts.html (Zugriff: 10.11.2024).