Am 22. April 2024 wäre Immanuel Kant 300 Jahre alt geworden. Während anlässlich seines Geburtstages an ihn und sein Denken erinnernd einige neue Publikationen erschienen sind, hielt Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin während des offiziellen Festakts der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die in der Tradition der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der auch Kant als auswärtiges Mitglied angehörte, steht, eine Rede, in der er argumentierte, dass Kant uns «gerade in diesem Jahr, gerade in dieser Zeit, nicht nur in philosophischer Hinsicht, sondern auch in politischer und geopolitischer Perspektive» viel zu sagen habe.1 Scholz ging es im Anschluss besonders darum, unter Bezugnahme auf Kants Schrift Zum ewigen Frieden den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu verurteilen und insbesondere auch darum, die Vereinnahmung Kants durch Putin zur Legitimierung seines Krieges ad absurdum zu führen. Zwar soll die Wichtigkeit dieses thematischen Zuschnittes keineswegs in Abrede gestellt werden. Dennoch verwunderte es, dass der Fokus vor dem Hintergrund einer multiplen Krisenkonstellation, regressiver gesellschaftspolitischer Tendenzen, geringer Beliebtheitswerte für die Regierung sowie einer existenziellen Identitätskrise der Sozialdemokratie ausschließlich darauf lag.
Bereits der Titel des für den deutschen Sachbuchpreis 2024 nominierten Buches Kant. Die Revolution des Denkens von Marcus Willaschek lässt erahnen, dass in Kants Denken ein radikales und gestalterisches Potential angelegt ist, das zum Nachdenken über eine gerechte Gesellschaft genutzt werden kann.2 Auch andere Neuerscheinungen, wie zum Beispiel das unter dem Titel Der bestirnte Himmel über mir veröffentlichte Gespräch zwischen Omri Boehm und Daniel Kehlmann, zeigen, dass sich mit Kant sehr grundsätzlich über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nachdenken lässt.3 Dass mit Kant aber auch konkrete Kapitalismuskritik betrieben werden kann, wird am deutlichsten dadurch, dass die diesjährigen Benjamin Lectures von Lea Ypiam19., 20. und 21. Juni 2024 im Makeba Auditorium im Haus der Kulturen der Welt mit dem Titel «What Is Moral Socialism?» stattgefunden haben und Ypi dort für einen moralischen Sozialismus4 plädierte, der Marx und Kant zusammendenkt, wie dies auch der kürzlich verstorbene Oskar Negt vor einigen Jahren versucht hat.5 Und überdies durchzieht die kantische Gedankenwelt die Geschichte der Arbeiterbewegung und der politischen Linken, wie exemplarisch im Folgenden gezeigt werden soll. Ziel dieses Artikels sollen vier ideengeschichtlich und philosophisch unterfütterte Thesen dazu sein, was die politische Linke und insbesondere die Sozialdemokratie heute von der Auseinandersetzung mit Kant lernen könnte und wie sich mit seinem Werk der Kapitalismus kritisieren und die Gesellschaft gestalten lässt. Aus Platzgründen können die Thesen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern sollen auf der Grundlage zentraler Begriffe und Denkfiguren im Werk Kants lediglich zur kritischen Reflexion des Kapitalismus anregen.
Kant und Schiller oder: Freiheit und Emanzipation
Die erste These knüpft an das Freiheitsverständnis von Kant an. Denn nicht zufällig beziehen sich theoretische Schriften der Arbeiterbewegung immer wieder auf die liberalen Ansichten Kants und auch in Arbeiterkulturvereinen war Kants Freiheitsverständnis – mindestens vermittelt über Schiller, dessen Projekt eng mit dem Kants verknüpft ist und der als Freiheitsdichter und -denker viel gelesen wurde – populär. Die Schiller-Feier im Jahr 1905 und die intensive Auseinandersetzung mit Schiller durch wichtige Denker der Arbeiterbewegung wie Eduard Bernstein, Franz Mehring, Jean Jaurès und Kurt Eisner verankerten die Liebe zur Freiheit und das Aufbegehren gegen Willkür und Unterdrückung, die Kant und Schiller, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, verbindet, weiter in der Arbeiterbewegung.6
Zentral bei Kant ist, dass Freiheit für ihn bedeutet, sich losgelöst von Neigungen und äußeren Einflüssen an moralischen Gesetzen zu orientieren, die wir uns mit der Vernunft selbst geben. Freiheit vollzieht sich also als vernunftgeleitetes moralisches Handeln. Was zunächst und insbesondere in einer kapitalistischen Marktwirtschaft kontraintuitiv erscheinen mag, ist für die Entfaltung eines kapitalismuskritischen Impetus aus dem Werk Kants heraus zentral. Da Kant Freiheit negativ als Abwesenheit von Neigungen versteht und argumentiert, dass wir uns anhand der Vernunft zu unseren Gefühlen und Neigungen kritisch verhalten bzw. uns von diesen mindestens bis zu einem gewissen Grad distanzieren können, lässt sich mit Kant der Schlüsselbegriff der Emanzipation begründen. Denn indem Freiheit moralisches Handeln sowie der Gebrauch der Vernunft ist, kann der Mensch bis zu einem gewissen Grad immer autonom handeln. Die Philosophin Lea Ypi formulierte in einem Interview daher: «In der kantischen Auffassung von Freiheit gibt es immer ein Handlungsvermögen und diese Einsicht ist der wichtigste Schritt im Prozess der Aufklärung und Emanzipation.»7 Kurzum: Die politische Linke kann mithilfe von Kant ihren Schlüsselbegriff der Emanzipation begründen und sein Freiheitsverständnis produktiv dagegen wenden, dass wir nicht frei sind, wenn durch Werbung (vermeintliche) Bedürfnisse geweckt werden und wir uns dann für ein Produkt entscheiden, weil wir dadurch immer abhängig und niemals wirklich frei sind. Wirkliche Freiheit vollzieht sich als nur durch den Gebrauch der Vernunft und nicht durch das Eingehen auf Neigungen oder durch die Befriedigung von Bedürfnissen.
Kant und Marx zusammengedacht: Moralische Freiheit lässt sich im Kapitalismus nicht realisieren
Die zweite These schließt unmittelbar daran an: Moralische Freiheit, die auf Vernunft basiert, lässt sich in einem kapitalistischen System nicht realisieren. Indem Kant die Philosophie und die Vernunft gegen die Religion ins Feld geschickt hat, werden Erkenntnis und Urteilskraft auf individueller Ebene bedeutsam. Besonders spiegelt sich dieses Verständnis in einem seiner bekanntesten Zitate wider:
«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.»8
Nicht nur zeigt sich hier, dass Menschen verpflichtet sind, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Auch wird deutlich, dass Kant sich dagegen wendet, sich überhaupt in Abhängigkeitsverhältnisse (insbesondere ausbeuterischer Art) zu begeben. Neben der Freiheit kommt in dem Werk Kants dem Willen eine zentrale Bedeutung zu. Dieser tariert zwischen dem moralischen Handeln und menschlichen Neigungen aus. Kann man der Auseinandersetzung mit Kant normativ also abgewinnen, dass Freiheit niemals mit einer Unterwerfung unter systemischer profitmaximierender Imperative, die besonders auf Neigungen abzielen, möglich ist, so kann die Politik daraus ableiten, dass es eines Systems bedarf, das diese Form der Freiheit strukturell begünstigt und die Vernunft in Institutionen zur Entfaltung kommen lässt. Die Widersprüche des Kapitalismus selbst hat Kant hierbei jedoch nicht im Blick. Daher führt Ypi in einem Interview auch aus:
«Kant kann nicht vollständig erklären, warum es für die Prinzipien der Vernunft so schwierig ist, institutionelle Realität zu werden. […] [S]eine Analyse der Pathologien der Marktgesellschaft wird erst später von Hegel und dann von Marx weiterentwickelt. Marx gibt uns nicht nur eine umfassendere soziologische und historische Analyse der Grenzen der kapitalistischen Freiheit, sondern hat auch eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum unser Ideal von Freiheit und die Realität der Freiheit im Widerspruch zueinanderstehen. Kant gibt uns eine Vision davon, wie die Welt sein sollte, Marx eine Antwort darauf, warum die kapitalistische Welt nicht diese kantische Welt sein kann.»9
Oskar Negt argumentiert in seiner verschriftlichen Abschiedsvorlesung ähnlich und schreibt das Kant das Sollen und Marx das Sein im Blick hat, dass beides aber durchaus komplementär zueinander gedacht werden kann.10
Der kategorische Imperativ als Kapitalismuskritik
Die dritte These ist, dass sich die Vision davon, wie die Welt sein sollte, am besten mit Kants kategorischem Imperativ, in dem Freiheit und Vernunft zusammenkommen, denken lässt. Der kategorische Imperativ «handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde» kann und muss demnach auf die politische Ebene angewendet werden. Mit dem kategorischen Imperativ lässt nach Kant zunächst einmal prüfen, ob der Wille der Handlung richtig ist, das heißt, die Handlung muss einerseits universalisierbar sein und andererseits kann eine Handlung nur dann als moralisch gelten, wenn sie kategorisch gilt und damit unabhängig von Zeit und individuellen Zielen ist. Hinzu kommt, dass Menschen niemals als bloße Mittel, sondern immer als Zweck behandelt werden müssen.
Auf die politische und soziale Ebene hat beispielsweise der Neukantianer Leonard Nelson den kategorischen Imperativ gehoben und aus ihm die Notwendigkeit sozialer Gerechtigkeit und einer praktischen Ethik der Solidarität abgeleitet. Zudem sah er in dem kategorischen Imperativ ein Abwägungsgesetz: «Handle nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.»11 Auch Adorno, der für eine Einrichtung des Denkens und Handelns plädiert, durch die sich Auschwitz nicht wiederholen könne, und Marx mit seinem kategorischen Imperativ, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist»12 haben sich an dem kategorischen Imperativ Kants orientiert und diesen auf eine politische und soziale Ebene gehoben. Die Liste könnte man auch um den Neukantianer Hermann Cohen, den Austromarxisten Otto Bauer, Karl Vorländer, Eduard Bernstein und andere erweitern, die – mehr oder weniger – in die Strömung des ethischen Sozialismus eingeordnet werden können. Im Kern aber geht es darum: Alle Auseinandersetzungen mit dem kategorischen Imperativ weisen darauf hin, dass die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht unberücksichtigt bleiben können und ein rein monologisches Verfahren ohne Entfaltung der Vernunft in der Öffentlichkeit an Grenzen stößt oder gar in Barbarei umschlagen kann. Einen sehr überzeugenden Vorschlag, dieses Problem des monologischen Verfahrens anzugehen, macht beispielsweise Jürgen Habermas: «Der kategorische Imperativ bedarf einer Umformulierung in dem vorgeschlagenen Sinne: Statt allen anderen eine Maxime von der ich will, dass sie allgemeines Gesetz sei, als gültig vorzuschreiben, muss ich meine Maxime zum Zweck der diskursiven Prüfung ihres Universalitätsanspruchs allen anderen vorlegen. Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder (einzelne) ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen.»13 In jedem Fall aber muss eine Politik im Anschluss an den kategorischen Imperativ von Kant die menschliche Würde in den Mittelpunkt stellen und Menschen vor Ausbeutung und Instrumentalisierung schützen. Oder in den Worten Ypis: «Für Kant verlangt die Moral, dass wir uns zueinander nicht nur als Mittel zum Zweck verhalten, sondern als Zweck an sich. Der Kapitalismus verstößt gegen dieses kantische Prinzip.»14
Kritik als Daueraufgabe
Zuletzt, als vierte These, sollte das kritische Denken Kants als Leitlinie und Daueraufgabe wahrgenommen werden. Für die Notwendigkeit einer immer wieder kritischen Durchsicht bestehender theoretischer Annahmen vor dem Hintergrund der Empirie hat sich besonders Eduard Bernstein argumentativ eingesetzt, der bereits 1899 feststellte, «daß der Sozialdemokratie ein Kaut nottut, der einmal mit der überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht geht, der aufzeigt, wo ihr scheinbaren Materialismus die höchste und darum am leichtesten irreführende Ideologie ist, daß die Verachtung des Ideals, die Erhebung der materiellen Faktoten zu den omnipotenten Mächten der Entwicklung Selbsttäuschung ist, die von denen, die sie verkünden, durch die Tat bei jeder Gelegenheit selbst als solche aufgedeckt ward und wird.»15
Fazit
Wie, wenn auch nur holzschnittartig, gezeigt werden konnte, lässt sich mit Kant durchaus Kapitalismuskritik betreiben, wenngleich diese nicht genuin in seinem Werk verankert ist. Sein Freiheitsverständnis steht jedoch im Widerspruch zum kapitalistischen Freiheitsbegriff, moralische Freiheit lässt sich im Kapitalismus nicht realisieren, was aber nur durch das Zusammendenken von Marx und Kant deutlich wird, und aus seinem kategorischen Imperativ lässt sich ein Gegenprogramm zum Kapitalismus entwickeln, wenn dieser in den politischen und sozialen Kontext überführt wird und nicht als monologisches Verfahren gedacht wird. Schließlich sollte der kritische Impetus Kants die politische Linke immer wieder zur kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und den eigenen theoretischen Annahmen mahnen. Es lohnt sich also insbesondere aus Sicht der politischen Linken durchaus, sich anlässlich des 300. Geburtstages von Kant umfassender mit seinem Werk auseinanderzusetzen, als das Hauptaugenmerk (ausschließlich) auf seine Schrift «Zum ewigen Frieden» zu richten.
1 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/reden/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-festakt-zum-300-geburtstag-von-immanuel-kant-am-22-april-2024-in-berlin-2272896 (24.06.2024).
2 Vgl. Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens. München 2023.
3 Vgl. Omri Boehm/ Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir. Berlin 2024.
4 Kompakt zusammengefasst wird Ypis Verständnis eines moralischen Sozialismus in den folgenden Interview: https://www.philomag.de/artikel/lea-ypi-das-system-dem-wir-leben-untergraebt-die-moral (24.06.2024) sowie https://www.deutschlandfunkkultur.de/lea-ypi-ueber-freiheit-und-moral-hat-kant-den-sozialismus-begruendet-dlf-kultur-6851c25b-100.html (24.06.2024).
5 Vgl. Oskar Negt: Kant und Marx. Ein Epochengespräch. Göttingen 2003, insbesondere S. 15 ff.
6 Vgl. Otto Dann: «Friedrich Schiller in Deutschland und Europa». In: APuZ Nr. 9/10 2005, S. 28 f., online https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29204/friedrich-schiller-in-deutschland-und-europa/#footnote-target-24 (24.06.2024) sowie Wolfgang Hagen: Die Schillerverehrung in der Sozialdemokratie. Stuttgart 1977.
7 Friedrich Weißbach: «Der Kapitalismus verstößt gegen das kantische Prinzip». In: Philosophie Magazin. Sonderausgabe Nr. 28, S. 71. Vgl. auch Lea Ypi: Frei. Berlin 2022.
8 Immanuel Kant: «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? » In: Berlinische Monatsschrift. Nr. 12 1784, S. 481.
9 Friedrich Weißbach: «Der Kapitalismus verstößt gegen das kantische Prinzip». In: Philosophie Magazin. Sonderausgabe Nr. 28, S. 72.
10 Vgl. Oskar Negt: Kant und Marx. Ein Epochengespräch. Göttingen 2003, insbesondere S. 15 ff.
11 Leonard Nelson: «Kritik der praktischen Vernunft» In: Gesammelte Schriften in neun Bänden. Band IV. Hamburg 1972, S. 133.
12 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: MEW Bd. 1, S. 385.
13 Jürgen Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main 1983, S. 77.
14 Friedrich Weißbach: «Der Kapitalismus verstößt gegen das kantische Prinzip». In: Philosophie Magazin. Sonderausgabe Nr. 28, S. 72.
15 Eduard Bernstein: «Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie [1899]. In: Horst Heimann (Hg.): Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Berlin, Bonn 1984, S.201.