Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Ein Vortrag. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2024, 86 S., 10,00€
«Der Antisemitismus ist nicht erst von Hitler von außen her in die deutsche Kultur injiziert worden, sondern diese Kultur war bis dorthinein, wo sie am allerkultiviertesten sich vorkam, eben doch mit antisemitischen Vorurteilen durchsetzt gewesen.» – Theodor W. Adorno1
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf unschuldige Zivilist:innen in Israel titeln diverse Medien über das politische Spektrum hinweg mit Dramatik, dass Antisemitismus in Deutschland nun wieder an der «Tagesordnung» sei. Ebenso ein Ausdruck «abgründiger Dummheit» sei die «Phrase, Antisemitismus habe in Deutschland ‚keinen Platz‘» (S. 84), stellt Jan Philipp Reemtsma im Nachwort des von ihm im Januar 2024 neu bei Suhrkamp herausgegebenen Aufsatzes Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute von Theodor W. Adorno fest. Auch wenn die genannten journalistischen Floskeln an jüdischen Lebensrealitäten vorbeigehen mögen, demonstrieren sie doch, welche historisierenden Vorstellungen von Antisemitismus heute gesellschaftlich verbreitet sind. Verschwiegen wird durch sie, dass Antisemitismus in der kapitalistischen, postnazistischen Gesellschaft in Deutschland nicht eine Ausnahme darstellt, sondern eine feste Konstante ist. Nicht zuletzt zeigt sich dies dadurch, welche Aktualität der von Adorno im Jahr 1962 gehaltene Vortrag noch heute für sich beanspruchen kann. Auf Einladung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit hielt er diesen vor eingeladenen Pädagog:innen. Daher weist der Text eine für Adorno außergewöhnlich leichte Verständlichkeit auf, die es auch fachfremden Personen ermöglicht, den Inhalt zu erschließen.
Mit der Einführung des von Peter Schönbach, einem Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, herausgearbeiteten Begriffs des «Sekundären Antisemitismus» (S. 13) steigt Adorno in seinen Vortrag ein und macht zugleich deutlich, in welcher Form Antisemitismus nach der Shoah in Erscheinung trete. Dadurch wird gleich zu Beginn die Richtung seines Textes bestimmt: Es gehe nicht darum, inwiefern Antisemitismus in Deutschland noch präsent sei, sondern warum. Um sich dieser Fragestellung anzunähern, kommt Adorno auf die gesellschaftlich begünstigte «Bildung des autoritätsgebundenen Charakters» zurück (S. 17). Dieser transformierte sich allerdings zu Beginn der 60er-Jahre hin zu einem «manipulativen Charakter», der sich durch einen «Mangel an Affekt» (S. 36), also unter anderem an fehlender Liebe und Zuneigung in familiären Beziehungskonstellationen auszeichne. Anknüpfend daran versucht Adorno anzudeuten, dass Antisemitismus gerade nicht durch den Austausch rationaler Argumente und weiterer Bildungsangebote Einhalt geboten werden könne. Dies würde den Ursprung des Antisemitismus allein darauf reduzieren, dass Antisemit:innen falschen Fakten Glauben schenkten und einfach nicht richtig informiert seien. Die Irrelevanz von Fakten und die Bedeutung von Affekten zeigt sich auch in gegenwärtigen Debatten. Reemtsma, der in seinem Nachwort versucht, einige Passagen aus Adornos Vortrag mit der Gegenwart zu verknüpfen, kommt auf die Erscheinung zu sprechen, dass im aktuellen Konflikt um den Nahostkonflikt ein Mensch «die abenteuerlichsten Behauptungen für bare Münze nimmt, wenn sie auf Gefühlsebene bestätigen, was er sowieso meint» (S. 70). Wie postfaktisch sich der aktuelle Diskurs um den Israel-Gaza-Krieg aktuell verhält, zeigt sich kumuliert in einem Bild, welches vor einiger Zeit die Runde in den sozialen Netzwerken machte: Darauf zu sehen war ein Mensch, der auf einer Demonstration am 09. Mai 2024 in Wien im Zuge einer Campusbesetzung eine bemalte Jacke trug. Ganz oben zu sehen der Spruch: «Kein Gott, Kein Staat, Kein Patriarchat», darunter eine große palästinensische Fahne. In Anbetracht der Tatsache, dass ein souveräner Staat Palästina unter den aktuellen Machthabern sicherlich kein atheistischer wäre und Frauenrechte nicht durchgesetzt würden, erscheint diese Verknüpfung mehr als zynisch. Dahinter verbirgt sich die erlösende Vorstellung, dass ohne den Staat Israel alles Übel auf der Welt verschwinden würde.2 Im Kern ist Antisemitismus eben nicht nur ein Stereotyp, nicht nur eine Form von Rassismus, sondern ein entlastendes Welterklärungsmodell, eine «Leidenschaft» (S. 77).
Was kann also überhaupt gegen Antisemitismus unternommen werden? Im Vortrag folgt eines der berühmtesten Zitate Adornos: «Den Antisemitismus kann nicht bekämpfen, wer zur Aufklärung zweideutig sich verhält» (S. 28). Es brauche eine klare Benennung der strukturellen Mechanismen der kapitalistischen Warenwirtschaft und deren individualisierter Konsequenzen. Dabei müsse auch das Potenzial der eigenen Handlungsfähigkeiten aufgezeigt werden. So wünscht man sich heutzutage auch bei einigen der scheinaktivistischen Feelgood-Instagram-Kampagnen im Kontext des Israel-Gaza Krieges die Autonomie, die «Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-[Mit-]Machen»3 eines jeden Einzelnen.
Die daran anschließenden, recht hilflos wirkenden, pädagogischen Ratschläge Adornos zeugen nur davon, dass er trotz des Wunsches, den im Raum anwesenden Pädagog:innen einige praxisnahe Tipps an die Hand zu geben, selbst keine adäquate Vorstellung davon hatte, wie die Folgen der in der Gesellschaft inhärenten Ursachen des Antisemitismus in derselben aufgelöst werden könnten. Es folgen daher Hinweise zur Konfrontation von antisemitischen Aussagen. Diesen sollte konsequent und «sehr energisch entgegentreten» (S. 49) werden, ohne sich dabei auf eine Diskussion mit den Antisemit:innen einzulassen.
Inwiefern Adornos Vortrag an einigen Stellen nicht doch einer Aktualisierung bedürfe, bleibt herauszustellen. So finde der Antisemitismus der 60er-Jahre aufgrund eines gesellschaftlich auferlegten Tabus über eine Umweg-Kommunikation Verbreitung. Doch kann heute noch von einem von Adorno postulierten «Krypto-Antisemitismus» (S. 16) die Rede sein? Während der direkt an die NS-Ideologie anknüpfende Judenhass weiterhin einem Tabu unterliegen mag, ist der ebenso auf Umweg-Kommunikation beruhende israelbezogene Antisemitismus in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert und anknüpfungsfähig geworden. Dass Adorno nicht auf diese heute so virulente Form des Antisemitismus eingeht, ist jedoch seiner Zeit geschuldet. Tatsächlich war der israelbezogene Antisemitismus in den 1950- und 1960er-Jahren noch nicht so ausgeprägt. Dieser fand gesellschaftliche Akzeptanz erst mit dem Sechstagekrieg im Jahr 1967. Adornos Vortrag stellt insofern eine zeitgebundene Analyse dar, die zur Betrachtung und Einordnung der aktuellen Phänomene einer Aktualisierung bedarf. Und doch: Auch wenn sich die Artikulationsformen geändert haben, die zugrunde liegenden antisemitischen Stereotype bleiben die Gleichen. So wird etwa der jahrhundertealte Vorwurf, Juden:Jüdinnen seien Kindermörder, heute mit Bezug auf Israel geäußert.
Mit der Neuherausgabe des bekannten Vortrages reagiert Suhrkamp auf die Geschehnisse im Nahen Osten und die sich zuspitzende, aggressive Artikulation von Antisemitismus weltweit. Fraglich bleibt jedoch bis zuletzt, wer die Zielgruppe dieser Neuerscheinung sein mag. Im Zuge der andauernden medialen Auseinandersetzung über Antisemitismus, scheint es erfreulich, wenn Menschen nun das Interesse verspüren, sich genauer mit den Funktionsmechanismen des Antisemitismus auseinanderzusetzen. Zu hoffen bleibt, dass diese nicht den verkürzten Rückschluss ziehen, dass die «Brezel-Sitte»4 im Klassenraum genügen würde, um Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen. Nicht umsonst hält Reemtsma in seinem Nachwort fest, dass Adornos Vortrag nicht als ausschöpfende Erklärung von Antisemitismus und seiner Bekämpfung verstanden werden dürfe. Dies würde die Rezipient:innen zu einer «trügerische Beruhigung»5 verleiten, die im Angesicht der Gegenwart ebenso gefährlich scheint wie die antisemitische Gewalt und Vernichtungsfantasien an sich.Vor diesem Hintergrund sei empfohlen, sich tiefgehender mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. Adornos Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute bereitet dafür einen passenden Einstieg, der dazu ermutigt, sich auch mit weiteren Texten der Kritischen Theorie auseinanderzusetzen.
1 Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Ein Vortrag. Berlin 2024, S.55.
2 Stephan Grigat: «Kritik des Antisemitismus heute». In: Grigat (Hrsg.): Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart. Erscheinungsformen – Theorien – Bekämpfung. Baden-Baden 2023, S.33
3 Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959 bis 1969. Frankfurt 1971, S. 93.
4 Adorno schlägt vor, Kindern bei ihrer Einschulung Brezeln zu schenken, um ihnen den Eintritt in die Schule zu erleichtern. Vgl. S. 40.
5 Jan Philipp Reemtsma am 27. Januar 2024 im Deutschlandfunk. Nachzuhören unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/antisemitismus-bedient-den-wunsch-nach-brutalitaet-gemeinheit-und-ressentiment-dlf-kultur-d1f33c25-100.html (31.05.2024).