Rezension zu: Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antizionismus und Identitätspolitik. Berlin: Querverlag 2024, 456 S., 20,00€
Am siebten Oktober 2023 wurden 1200 Israelis durch die islamistische Terrororganisation Hamas ermordet. Über 5000 Menschen wurden verletzt und unzählige traumatisiert. Der antisemitische Pogrom, bei welchem an einem Tag so viele Juden und Jüdinnen ermordet wurden, wie seit der Shoah nicht mehr, hätte einen Eklat auslösen und in Solidarität mit Israel, Jüdinnen und Juden in der Diaspora sowie einem weltweiten Kampf gegen islamistischen Terror münden müssen. Doch stattdessen radikalisieren sich Teile von antikapitalistischen und antirassistischen Gruppierungen und verklären den antisemitischen Pogrom der Hamas als Befreiungskampf Palästinas, als politische Praxis des Theorems der Dekolonialisierung oder als legitimes Aufbegehren gegen den Westen. Dass dies insbesondere in sich selbst als links definierten Räumen geschieht, mag auf den ersten Blick verwundern. Gewarnt wurde vor der sich zuspitzenden Dominanz autoritärer und dogmatischer Positionen innerhalb der Linken sowie deren zunehmenden Unfähigkeit, Antisemitismus theoretisch zu erfassen und praktisch zu bekämpfen, jedoch schon lange. Unter anderem durch Vojin Saša Vukadinović, dem Herausgeber des im April 2024 erschienenen Sammelbandes Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antizionismus und Identitätspolitik. In dreißig Beiträgen skizzieren die ebenso vielen Autor:innen eine breite Auswahl an persönlichen Eindrücken, Kommentaren und politischen Analysen des 7. Oktobers und dessen Nachwirken.
Die breite Auswahl an Autor:innen und Themenschwerpunkten ermöglicht es, die Vielschichtigkeit des gegenwärtigen Antisemitismus zu verdeutlichen. So adressiert die Musikerin Tamar Aphek die menschen- und lebensverachtende Ebene der Verbrechen der Hamas, anhand derer sie ihre Beschreibung der Verbrechen als «holocaust-artig» begründet. Andere Texte hingegen beschäftigen sich mit den Universitäten als aktuellem zentralen Schauplatz antisemitischer Radikalisierung und begründen dies sowohl historisch als auch theoretisch – dominierende Theorien und Theoretiker:innen in den Sozialwissenschaften legten demnach wichtige Grundsteine für den (akademischen) Israelhass. Welche gravierenden Folgen dies für Jüdinnen und Juden habe, wird besonders in Camila Bassis Text, «Dekolonisierung» ist nach dem 7. Oktober keine Metapher mehr, deutlich. In diesem skizziert sie detailliert, wie der Text Decolonization is not a metaphor (2012) von den postkolonialen Wissenschaftler:innen Eve Tuck und K. Wayne Yang sämtliche israelische Juden zu einem legitimen Angriffsziel verkläre. Dekolonialisierung, so Tuck und Yang, sei zwangsläufig verstörend. Praktische Konsequenzen der postkolonialen Theorie ließen sich am Tweet der US-amerikanischen Influencerin Najma Sharif erkennen, die am 07. Oktober schrieb: «Was dachtet ihr alle denn, was Dekolonisierung bedeutet? Vibes? Seminararbeiten? Essays? Looser.»1 Deutlich wird: Der postkoloniale Zweck der Dekolonialisierung legitimiert jegliche Mittel der als «indigenen» definierten Gruppen. Und dass Israel und seine Bevölkerung eine westliche, weiße Kolonialmacht sei, welche aufgrund dieser Rolle die alleinige Verantwortung für die Situation der Palästinenser:innen (die in diesem Kontext als einzige indigene Gruppe verstanden wird) tragen würde, hat sich als postkolonialer Glaubenssatz bereits vor dem 07. Oktober durchgesetzt. Treffend schreibt Miro Verdel in seinem Text Es ist wirklich nicht so kompliziert. Anmerkungen zu politischer Komplexität und identitätspolitischer Vereinfachung, dass der Wunsch nach einfachen Verhältnissen, nach einer eindeutigen und widerspruchsfreien Einteilung von Macht und Herrschaft, wie sie im genannten postkolonialen Beispiel zu erkennen sei, letztlich «sinnbildlich» stehe für die «totale Flachheit eines Denkens, das schon gar nicht mehr denken will».
Aus antisemitismuskritischer Perspektive gibt es wenig Anlass, um auf baldige Veränderungen, wie etwa auf dem Campus oder innerhalb der politischen Linken zu hoffen. Der Sammelband zeigt deutlich, dass die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen auf langjährigen Entwicklungen fußen und somit ein Abflachen oder gar ein Ende des antisemitischen Hasses und der Vernichtungsfantasien über den Staat Israel nicht abzusehen sind. Trotzdem darf die radikale Linke im Kampf gegen Antisemitismus nicht abgeschrieben werden, denn Antisemitismus und Israelhass sind dieser nicht genuin inhärent. Wenn in Beiträgen wie von Cem Erkisi vor der Unterwanderung der Gewerkschaftsjugenden durch «Linksextremisten» gewarnt wird, ohne dabei anscheinend in der Lage zu sein, die Relevanz und auch vielerorts die langjährige Dominanz antisemitismuskritischer und israelsolidarischer Positionen in der radikalen Linken zu erkennen, verfällt man in eine vereinfachende und ziellose Diffamierung linksradikaler Arbeit. Bürgerliche Extremismusbegriffe stellen kein geeignetes Mittel zur Kritik des linken Antisemitismus dar und bestätigen die antiimperialistische Variante der Hufeisentheorie, die links als «pro Palästina» und rechts als «pro Israel» setzt. Diese simplifizierenden Schemata müssen theoretisch sowie durch historische und gegenwärtige Beispiele aus der Praxis entkräftet werden. Auch wenn sich israelsolidarische und undogmatische Personen von großen Teilen der politischen Linken aktuell entfremdet fühlen, darf diese dichotome und extrem vereinfachende Erzählung antiimperialistischer Gruppierungen nicht zusätzlich durch israelsolidarische Akteur:innen befeuert werden.
Abseits dessen werden in vielen Beiträgen des Sammelbandes auch richtige Forderungen und notwendige Handlungsmöglichkeiten skizziert: Von Aufklärungsarbeit über die Entstehung und Bedeutung Israels, über eine Stärkung des persönlichen Austausches mit der israelischen Zivilbevölkerung, bis hin zu einer Kopplung der Geldmittel des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie der des Auswärtigen Amtes an die IHRA-Definition, um sicherzustellen, dass staatliche Mittel keine antisemitische Agenda im Ausland finanziert. Diese Forderungen sind natürlich nicht neu, auch wenn der 7. Oktober die Dringlichkeit der Verwirklichung dieser verdeutlicht. Ein bloßes Unterstreichen dieser reicht jedoch nicht mehr aus. Denn das Nachwirken des 7. Oktobers verdeutlicht, dass antisemitismuskritische Arbeit auch, zumindest in Teilen, versagt. So muss man sich auch der unbequemen Frage widmen, deren Antworten Verständnis dafür aufbringen können, wie es überhaupt so weit kommen konnte: Wie konnte die Stimmung in linken Räumen und Gruppen so rapide kippen? Warum konnten Räume nicht ausreichend verteidigt werden? Wie konnte binnen weniger Jahre ein substanzieller Begriff des Antisemitismus verschwinden? Wie konnte sich trotz (oder gerade wegen) des Hochhalten der «wokeness», in dem die Empfindlichkeiten der Betroffenen als Maßstab für politisches Handeln gesetzt werden, über die existenzielle Bedrohung von Jüdinnen und Juden hinweggesetzt werden? Und wieso schaffen es diejenigen nicht, die sich dagegen stellen und versuchen, auf die Missstände aufmerksam zu machen, Gehör und Zuspruch innerhalb der politischen Linken zu gewinnen?
Für viele dieser Fragen kann der Sammelband zumindest Denkanstöße geben. Doch die Auseinandersetzung und der Kampf gegen jeden Antisemitismus geht weiter – in Sammelbänden, in politischen Organisationen und Gruppierungen sowie in der radikalen Linken.
1 Über den Tweet berichtete Vojin Saša Vukadinović in der Jungle World 2023/42. Online einsehbar unter: https://jungle.world/artikel/2023/42/protest-und-pogrom (22.6.2024).