Zukunftsvisionen zwischen Regierungsbeteiligung und Opposition – die polnische Linke nach dem Wahlmarathon

übersetzt von Laura Clarissa Loew

Die polnische Linke ist aus dem zurückliegenden Wahlmarathon (Parlamentswahlen im Oktober 2023, Kommunal- und Europawahlen im Frühjahr und Sommer 2024) nicht gerade siegreich hervorgegangen.1 Trotz ihrer Beteiligung an der Regierungskoalition unter Donald Tusk hat jede der Abstimmungen für sie eine Schwächung dargestellt. Nichtsdestotrotz können die politischen Diagnosen und Narrative, die sie in den letzten Jahren ausgearbeitet hat, eine interessante Alternative zu dem wachsenden Rechtspopulismus darstellen und haben in vielen Orten – trotz ungünstiger Bedingungen – die Grundlage für punktuelle Wahlerfolge gelegt. Wie sieht die linke Bewegung in Polen heute aus? Welche Probleme und Potentiale hat sie? Das sind Fragen, die für diese Nachwahlperiode essentiell sind.

Was funktioniert nicht?

Nach 18 Jahren ist die Linke in die polnische Regierung zurückgekehrt. Diesmal allerdings nicht mehr als Hegemon der politischen Szene, wie dies in den 00er-Jahren der Fall gewesen ist, sondern als kleinster Partner in einer Koalition mit Parteien des Mitte-Rechts-Spektrums; der Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition) unter Donald Tusk und der Trzecia Droga (Dritter Weg) mit seinen Vorsitzenden Szymon Hołownia und Władysław Kosiniak-Kamysz. Nichtsdestotrotz kehrt die Linke zurück an die Regierung, in der ihre VertreterInnen relevante Ressorts haben besetzen können. Ministerien, die für die Linke ein hohes Potential bieten, sowohl ihre Kernanliegen erfolgreich darzustellen als auch die fundamentalen Unterschiede zwischen den eigenen Positionen und denjenigen der politischen Mitte klarzumachen. Das Ministerium für Familie, Arbeit und Sozialpolitik wird geleitet von Agnieszka Dziemianowicz-Bąk – einer starken Frau, die in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten Führungspersönlichkeiten der Nowa Lewica (Neue Linke) herangewachsen ist. Dieses Ressort ermöglicht die Beschäftigung mit Themen, die der linken Bewegung traditionell sehr nahe sind. Darüber hinaus ist der Linken in der Ministerienverteilung eine große Verantwortung für die Entwicklung Polens zugefallen. Sie hat diejenigen Häuser erhalten, die für die rasend schnell stattfindende Digitalisierung des Landes sowie Wissenschaft und Hochschulen verantwortlich sind. Die sprichwörtliche Kirsche auf der Sahnehaube stellt hier der Ressortzuschnitt des Ministeriums für Gleichstellungsfragen (das von Katarzyna Kotula von der Nowa Lewica übernommen wurde) dar, das in seinem Zuständigkeitsbereich Fragen vereint, die für linke WählerInnen besonders relevant sind: die Liberalisierung des in Polen extrem restriktiven Abtreibungsrechts sowie die Legalisierung von eingetragenen LebenspartnerInnenschaften für gleichgeschlechtliche Paare.

Doch hält die gute Ausgangslage nicht, was sie verspricht. An dieser Stelle muss daher leider eine lange Liste derjenigen Probleme folgen, die sich aus der eben geschilderten politischen Situation ergeben. Zu den drängendsten gehört dabei der Mangel an tatsächlichem Einfluss in der Regierung sowie der fehlende politische Willen bei einem signifikanten Teil der Nowa Lewica, sich in der Koalition für ihre eigenen Positionen einzusetzen. Die Fragen von LebenspartnerInnenschaften und Liberalisierung der Abtreibung werden auf Druck der konservativen Trzecia Droga Monat für Monat auf die lange Bank geschoben. Fortschrittliche WählerInnen reagierten ebenfalls fassungslos auf die eskalierende Gewalt an der polnisch-belarusischen Grenze, an der immer noch illegale Pushbacks vorgenommen werden, an der immer noch Menschen sterben. Ohne größeren Widerstand der linken Regierungsmitglieder hervorzurufen, wurden massive Investitionsprojekte auf das Abstellgleis gestellt. Dazu gehören die bereits von der Vorgängerregierung der Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) begonnenen Planungen zum Ausbau des Schnellschienennetzes sowie des Baus eines Flughafens in Zentralpolen sowie das Programm zur Entwicklung von Kernernergie. Dabei gehören beide Infrastrukturprojekte zu Kernanliegen der linken WählerInnenschaft, ebenso wie die Forderungen nach Investitionen in den Bau von günstigen Mietwohnungen. Letzteres ist vor allem für junge WählerInnen essentiell, doch auch diese Angelegenheit wird unter den Rädern der Koalitionsmühlen zermahlen. Vor diesem Hintergrund ist der von der Koalicja Obywatelska forcierte Vorschlag eines zinslosen Kredits für Wohnungskäufe umso umstrittener. Diese Maßnahme wird nur die Nachfrage nach Wohnraum erhöhen, ohne neue Wohnungen zu schaffen. «Projekt Sicherer 0%-Kredit? Genauso gut könnten wir auch einfach den Überweisungs-Knopf drücken und die Milliarden an Złoty direkt an die Banken und Investoren überweisen!», so kommentierte Adrian Zandberg – Sejmabgeordneter und Vorsitzender der Partei Razem (Zusammen), ebenfalls Teil der linken Sejmfraktion – den Vorschlag.

Und damit kommen wir zum nächsten Problem: die Linke als Fraktion im Sejm besteht aus zwei relevanten Parteien: der Nowa Lewica, die Teil der aktuellen Regierungskoalition ist, sowie der Partei Razem, die mit der fortschreitenden Legislaturperiode eine immer stärker oppositionelle Rolle einnimmt. Diese Konstellation ist nicht nur präzedenzlos in der polnischen politischen Landschaft, sondern stellt für die PolitikerInnen der Nowa Lewica auch eine Bedrohung dar. Razem als Basispartei, deren Haltungen und ideologisches Rückgrat deutlich stärker in linken Werten verankert sind als diejenigen ihrer FraktionspartnerInnen, wird immer deutlicher zur kompromisslosen Trägerin der wachsenden Enttäuschung der linken WählerInnen gegenüber den VertreterInnen der Linken in der Regierung. Die generationellen und ideologischen Unterschiede zwischen den beiden Lagern wachsen immer weiter an und deren Einflüsse schlagen sich immer wieder in Wahlergebnissen nieder. In für die Nowa Lewica wichtigen Wahlbezirken erzielen die KandidatInnen von Razem bessere Ergebnisse und nehmen den PolitikerInnen des größeren Partners Mandate ab. Dies geschieht insbesondere in großen Städten: in Warschau oder Krakau, in denen Razem gegenwärtig in zwei Stadtbezirken unabhängig von der Nowa Lewica Mitglied von Koalitionen ist, und auch überall dort, wo die Verbandsstrukturen von Razem stark sind.

Eines ist klar – der gegenwärtige Kooperationsmodus der Linken funktioniert nicht mehr. Es benötigt jetzt einer Neudefinierung der gemeinsamen Ziele, des Rahmens der zukünftigen Zusammenarbeit, sowie eines lauten und konsequenten Kampfes um die Durchsetzung der eigenen Kernforderungen.

Was kann inspirieren?

Die Krise, in der sich die polnische Linke gegenwärtig befindet, bedeutet jedoch nicht automatisch eine Schwäche des linken Narrativs per se. Bei den Sejmwahlen im Oktober 2023, die den nun beendeten Wahlmarathon eingeleitet hatten, war das enttäuschende Ergebnis der Linken der Wahlkampflogik zuzuschreiben. Während der Kampagne spielten die tatsächlichen inhaltlichen Angebote der politischen Lager eine untergeordnete Rolle, dominiert wurde der Wahlkampf durch die Sorge, die bis dato regierende Prawo i Sprawiedliwość würde sich an der Macht halten können. Exemplarisch hierfür steht der Umstand, dass viele WählerInnen der Koalicja Obywatelska und sogar der Linken ihre Stimme aus taktischen Überlegungen dem konservativsten Teil der aktuellen Koalition, der Trzecia Droga, gegeben haben. Dies geschah infolge eines Narrativs, das in der letzten Wahlkampfwoche aufgekommen war, und die Sorge verbreitete, dass die Trzecia Droga den Sprung ins Parlament nicht schaffen könnte.2 In diesem Szenario wäre es der Prawo i Sprawiedliwość wohl möglich gewesen, weiter an der Regierung zu bleiben.

Die Kampagne der Linken hat es jedoch geschafft, auf wohlüberlegte Weise auf die Sprache und Narrative zu antworten, die unter anderem die rechtsextreme Konfederacja (Konföderation) in ihrem Wahlkampf verwendet hat. Diese setzte in der Kampagne stark auf den Wert der Selbstverwirklichung und stellte diesen den vermeintlichen politischen Zielen der EU gegenüber. Einer der führenden Köpfe der Konfederacja, Sławomir Mentzen, wiederholte während des Wahlkampfes mantraartig den Slogan «Die Konfederacja, das ist ein Haus, Rasen, Grill und zwei Autos». Die Alternative zu dieser Erzählung wurde ebenso klar gezeichnet: weitere Verbote, EU-Verpflichtungen zum «Würmeressen» sowie vor allem die Verhinderung der eigenen Selbstverwirklichung und des Aufstiegs in die Mittelklasse. Die Konfederacja präsentiert eine nostalgische Vorstellung einer traditionellen Familie, geradewegs entsprungen aus dem Bild amerikanischer Vorstädte der 1950er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Diese postkartenähnliche amerikanische Art der Selbstverwirklichung blieb aber nicht ohne linken Konter. Während die PolitikerInnen der Rechten die WählerInnen in die Idealwelt eines perfekt gepflegten Gartens einer Vorstadt entführten, nahmen die WahlkämpferInnen der Linken ihr Elektorat mit ins Ausland, konkret nach Wien. Eine der gerade fertiggestellten Siedlungen von Kommunalbauten in der österreichischen Hauptstadt bot den Hintergrund für ein programmatisches Treffen der Linken im Vorfeld des Sejmwahlkampfes 2023, bei dem sie ihre Lösungsvorschläge für die Wohnungskrise in Polen präsentierten. Das Bild von grünen, gut geplanten Siedlungen, mit günstigen und gemütlichen Wohnungen, mit den wichtigsten Dienstleistungen und öffentlichem Nahverkehr in Laufnähe, war ebenfalls die Vision eines zukünftigen Polens, das die Linke ihren WählerInnen angeboten hatte. Die Metapher sicheren Wohnens zog sich durch ihre Forderungen, Wahlkampfmaterialien, Versammlungen und den Internetauftritt (der graphisch nicht zufällig an den Ikea-Katalog erinnerte) und bot eine einheitliche Alternative zu rechten Narrativen. Ähnlich wie diese bedienten sie den Wunsch nach Selbstverwirklichung – nach einem bequemen und sicheren Leben in der Stadt auf einem guten Niveau

Schlussfolgerungen für die Zukunft

Die obenstehenden Überlegungen zusammenfassend muss konstatiert werden, dass die Linke in in Polen gegenwärtig mit zahlreichen Bremsklötzen konfrontiert ist, die sie daran hindern, ihre Forderungen umzusetzen und auf eigenen Beinen zu stehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie kein Potenzial hätte! In Polen, in anderen europäischen Staaten, im gesamten Rest der Welt ist die Linke Trägerin eines universalistischen Anspruchs. Links sein bedeutet, jedem und jeder sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Links ist der Glaube daran, dass der Staat in der Lage ist, anspruchsvolle Investitionsprojekte umzusetzen. Links ist die Überzeugung, dass jede und jeder ein Recht auf ein lebenswertes, gutes Leben für alle. Und links ist nicht zuletzt ein grundlegend anderes Verständnis gesellschaftlicher Konflikte, als dasjenige, das die Rechtspopulisten präsentieren: das Verständnis davon, dass der gesellschaftliche Kernkonflikt zwischen Kapital und Arbeit verläuft.

Aus diesen Grundsätzen lassen sich breit gefasste und einheitliche politische Narrative zusammenbauen – solche, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben. Solche, die in einer Welt voller Bedrohungen – dem voranschreitenden Klimawandel, militärischen Konflikten und Wirtschaftskrisen – verantwortliches Handeln in den Vordergrund rückt, das unseren Wohlstand schützt und sich den Herausforderungen von Morgen stellt.

Eines brauchen wir dazu jedoch wie die Luft zum Atmen: politischen Mut. Das polnische Beispiel zeigt klar, dass schwierige und komplizierte Zeiten der linken Bewegung mutige, deutliche und konsequente Kämpfe fortschrittlicher AkteurInnen bedürfen. Sie zeigen, dass man aus einer Position der Schwäche keine Unterstützung für demokratische und soziale Alternativen generieren kann. In Europa steht uns die Zeit der Nachwahllese bevor. Das polnische Beispiel muss uns also dazu dienen, eine starke, konkrete und – was am wichtigsten ist – mutige Linke aufbauen, die mit Selbstbewusstsein und Glaube an die Stärke der eigenen Forderungen nach zukünftigen Erfolgen greift. Dann, und nur dann, wird es auch besser werden!

1 Der Begriff Linke bezeichnet in diesem Text den sich in verschiedenen Kontexten unterschiedlich gestaltenden Zusammenschluss verschiedener linker Parteien in Polen. Dazu gehört einerseits die Partei Nowa Lewica, die als Zusammenschluss aus postkommunistischen und linksliberalen Kräften gegenwärtig Teil der Regierung ist, weiterhin die sozialdemokratische Partei Razem sowie weitere kleinere sozialdemokratische und sozialistische Parteien. Unter dem Namen Nowa Lewica sind sie gemeinsam zu den Wahlen angetreten und bilden auch im Sejm eine gemeinsame Fraktion unter dem Namen Lewica (Linke), doch nur die Nowa Lewica ist auch Mitglied der Regierungskoalition. [Anmerkung der Übersetzerin]

2 Für Wahlbündnisse, wie die Trzecia Droga eines darstellt, gilt in Polen eine Hürde von acht Prozent. [Anmerkung der Übersetzerin].