2024 war, nach allen Maßstäben, ein turbulentes halbes Jahr für die Demokratie in Deutschland. Im Januar legten Bauern mit Heuballen und Traktoren das Regierungsviertel lahm. Als nächstes gingen im ganzen Land Menschen gegen die Enthüllungen des Recherchenetzwerkes Correctiv zu einem Geheimtreffen von Rechtsextremisten und AfD-Politiker:innen auf die Straße. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung belegte im April1, dass die Mitte der Gesellschaft zunehmend an Vertrauen in die Zukunft verliere, und die Zustimmungswerte der Ampelkoalition befinden sich seit Monaten im Tiefflug. Bei den Europawahlen im Juni erreichte die AfD schließlich bundesweit 15,9% und wurde stärkste Kraft in allen ostdeutschen Bundesländern.
Gleichzeitig dominiert in der medialen Berichterstattung über die Bundesregierung das Narrativ des Streits, der die Koalition zu fragmentieren droht, und in dem letztlich die Finanzierungsfrage immer wieder im Zentrum steht. Die Schwierigkeiten der Regierungsverantwortung, kurzfristige Haushalte und eine langfristige Finanzierung zur Überwindung von Pandemie, Krieg und Klimawandel zu finden, haben die Haushalts- und Finanzpolitik von einem Exper:innententhema in das Zentrum des politischen Diskurses gerückt.
Uneinigkeit in Berlin, Wut und Vertrauensverlust im Land: Welche Rolle sollte die materielle Dimension des Politischen in diesen turbulenten Zeiten einnehmen? Und wie könnte eine linke finanzpolitische Erzählung aussehen, die das Vertrauen in die Politik wieder stärkt und die Demokratie verteidigt?
Das wissenschaftliche und gesellschaftliche Hinterfragen des Erstarken rechtspopulistischer Parteien in den vergangenen Jahren hat sich bislang vor allem auf kulturelle und identitäre, nicht jedoch auf materielle Aspekte konzentriert. Konkret leitet sich also für sozialdemokratische Akteure der Auftrag ab, finanz- und wirtschaftspolitische Lösungskonzepte anzubieten, die auf die realen Lebensumstände der Bürger:innen eingehen.
Sparpolitik und Ungleichheit als Bedrohung für die Demokratie
Ein Schlüssel dafür liegt in der Haushaltsführung der Bundesregierung. Beim «Finanzpolitischen Jugenddialog», dem zentralen Veranstaltungsformat von Fiscal Future im März 2023, bezeichnete der Wirtschaftshistoriker und Professor an der Columbia University, Adam Tooze, die Schuldenbremse als «Demokratiefeindlichkeit aus der Mitte der Politik». Eine Studie der Schwedischen Zentralbank zeigt zudem, dass eine Reduktion öffentlicher Ausgaben um ein Prozent die Wahlergebnisse extremer Parteien um drei Prozent steigert2, und belegt damit einen direkten Zusammenhang zwischen Sparpolitik und Demokratiekrise. Durch Austerität eingeleitete wirtschaftliche Verluste wie eine Steigerung der Arbeitslosigkeit oder ein Einbruch des Bruttoinlandsproduktes sowie schon die alleinige Sorge davor haben also zur Folge, dass sich das politische Klima radikalisiert. Relative Wohlstandsverluste und Abstiegsängste verstärken das Gefühl einer Konkurrenzsituation, in der verschiedene marginalisierte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, wie etwa Asylbewerber:innen gegen Mindestlohn-Beziehende.
Gleichzeitig erleben wir in Deutschland, dass die materielle Ungleichheit immer weiter wächst. Im Jahr 2021 besitzen laut ungleichheit.info3 zwei Deutsche Familien zusammen mehr als die ärmere Hälfte der Gesamtbevölkerung. Diese Ungleichheit ist dynamisch, nicht statisch, eine Dynamik, die durch Praktiken wie das Aussetzen der Vermögensteuer sowie Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer nur noch verstärkt wird. Die Schere zwischen Arm und Reich weitet sich, während materielle Verteilungskonflikte innerhalb der eigenen sozialen Schicht, also horizontal und nicht mehr vertikal ausgetragen werden.
Wir erleben also eine Sparpolitik, in der sich der Staat aus der öffentlichen Daseinsvorsorge zurückzieht und für die Einhaltung von Schuldenregeln ökonomische Verluste in Kauf nimmt, und eine Ungleichheit, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt destabilisiert. Zusammen sind beide Phänomene eine direkte Gefahr für die Demokratie.
Schuldenbremse versus Investitionsbedarfe
Denn mit Blick auf die Zukunft kommt hinzu, dass Deutschland in den kommenden Jahren vor massiven Investitionsbedarfen steht. Auf diese muss geantwortet werden, um die Transformation zu bewältigen und sozial gerecht auszugestalten, sowie um dafür zu sorgen, dass Deutschland im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig bleibt und somit Wohlstand und Arbeitsplätze gesichert werden.
Jahrzehnte neoliberaler Kürzungen sowie Privatisierungen in der öffentlichen Infrastruktur haben zu massiven Finanzierungslücken in kritischen Bereichen geführt: Eine Studie des IW und des IMK4 gibt eine aktualisierte Schätzung der Investitionsbedarfe der Transformation bei ungefähr 600 Mrd. Euro über die kommenden zehn Jahre an. Die größten Investitionsbedarfe liegen dabei in der Dekarbonisierung der Wirtschaft, dem Ausbau der erneuerbaren Energien, der kommunalen Infrastruktur, dem Ausbau von Ganztagsschulen und dem Sanierungsbedarf der Hochschulen sowie dem Ausbau des Schienennetzwerkes, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese sind aus den regulären Haushalten nicht zu finanzieren, weswegen die Autoren eine erneute Kreditaufnahme vorschlagen, bei der die Schuldenbremse entweder umgangen oder reformiert werden müsste. Die konkreten Reformoptionen dafür liegen bereits vor, beispielsweise durch eine «Goldene Regel» für investive Staatsausgaben, durch eine Ausdehnung der krisenbedingten Ausnahmen der Schuldenbremse oder durch eine Reform der sogenannten «Konjunkturkomponente».
Orientiert man sich aber an der Meinungsforschung innerhalb der Bevölkerung, so scheint die Schuldenbremse immer noch große Beliebtheit unter den Bürger:innen zu genießen: Im ARD-DeutschlandTrend vom Mai 2024 sprachen sich 54 Prozent der Befragten dafür aus, die Schuldenbremse einzuhalten5. Gleichzeitig befürworten aber 73 Prozent der Befragten einer neuen Umfrage der Bertelsmann Stiftung6, dass die Bundesregierung durch eine erneute Schuldenaufnahme in die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen investieren sollte. Die Zustimmung in der Bevölkerung zur Schuldenbremse ist außerdem in Relation zu setzen zu der real erkannten Notwendigkeit staatlicher Investitionen, aber auch zu dem finanzpolitischen Grundlagenwissen der Befragten. Eine gemeinsame Studie von Fiscal Future und dpart7 belegte nämlich außerdem einen Zusammenhang zwischen den Einstellungen zu Staatsschulden und Investitionen und dem Wissen darüber, wie Staatsschulden funktionieren.
Doch gerade im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik herrschen immer noch neoliberale Mythen und Narrative vor. Sie verschleiern die materielle Dimension des Politischen und spielen damit direkt dem Populismus in die Hände – eine progressive wirtschafts- und finanzpolitische Erzählung ist also ein direktes Mittel, um die Demokratie zu verteidigen. Dabei müssen ebenjene Narrative und Mythen konkret angegangen und entkräftet werden. Damit ist also die materielle Dimension des Politischen immer auch eine diskursive.
Wenn in Deutschland jemand «Schuldenbremse» sagt, hören die Anwesenden viel mehr das Wort «Schulden» als das Wort «Bremse». Dabei tut die Schuldenbremse genau das: Sie bremst diejenigen Investitionen, die für zukünftige Generationen sowie den Wirtschaftsstandort Deutschland essentiell sind, aus. Das Bild der «Schwäbischen Hausfrau» wird gerne von konservativ-liberalen Verfechtern der Schuldenbremse zu ihrer Verteidigung beschworen. Doch würde sie ihr eigenes Haus verfallen lassen und ihren Kindern marode übergeben? Der Staat schiebt keinen «Schuldenberg» vor sich her, den er den jungen Menschen hinterlässt. Staatsschulden funktionieren nicht nach der gleichen Logik wie private Schulden: Sie müssen nicht «zurückbezahlt» werden, da eine vollständige Reduktion der Staatsschulden ökonomisch weder erforderlich noch sinnvoll ist. Zudem ist ihre Größe immer relativ am Bruttoinlandsprodukt zu bemessen, also durch die sogenannte Schuldenquote, die laut Berechnungen des IMK8 sich selbst bei einer Ausweitung der Schuldenaufnahme in Deutschland durch gleichzeitiges Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahren verringern wird. Die Schuldenbremse ist eine Zukunftsbremse, weil sie es dem Staat nicht erlaubt, in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs und multipler Krisen durch eine antizyklische Ausgabenpolitik in zukünftige Generationen zu investieren.
Der Schlüssel: Entkräftung neoliberaler Mythen zu Staatsschulden, Verteilungspolitik und Sozialstaat
Gleichzeitig ist Haushaltspolitik immer auch Verteilungspolitik, insbesondere vor dem Argument liberal-konservativer Akteure, der Staat müsse lernen «mit dem auszukommen, was er hat». Die Bekämpfung einer Finanzpolitik, die Ungleichheiten ermöglicht, lässt sich also ebenfalls diskursiv angehen. Einer progressiven finanzpolitischen Erklärung muss es gelingen, Narrative von Umverteilung neu zu prägen, die nicht auf Enteignung beruhen, sondern auf dem Gerechtigkeitsargument. Gegner des Bürgergeldes unterstreichen gerne, dass es im Grundgesetz kein Recht auf leistungsloses Einkommen gebe. Doch nach jener Logik hat damit auch der Unternehmenserbe oder die Unternehmenserbin kein Grundrecht darauf, steuerfrei von den Kapitaleinnahmen geerbter Firmenanteile zu leben. Das Sozialstaatsprinzip ist hingegen im Grundgesetz festgeschrieben. Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer kosten den Staat in Deutschland jährlich rund 10 Milliarden Euro und stellen damit die größte Steuersubvention dar, während sie gleichzeitig sehr ausgewählten Bevölkerungsgruppen zugutekommen. Der vorherrschende Mythos, dass Deutschland Hochsteuerland sei, bewahrheitet sich im OECD-Vergleich nur für Steuern auf Arbeit, nicht aber auf Erbschaft und Vermögen. Nur wenn die Privilegien bei der Erbschaftsteuer gekippt werden sowie eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer bedacht wird, kann eine vertikale Verteilungspolitik wieder der Aufgabe gerecht werden, die Demokratie vor ausufernder Ungleichheit zu bewahren.
Zuletzt dringen neoliberale Narrative auch zutiefst in den Diskurs um Sozialleistungen hervor, in welchem medial prominent vor den Folgen eines «ausufernden Sozialstaates» gewarnt wird. Auch hier muss angebracht werden, dass sich die Staatsquote, also der Anteil der staatlichen Ausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt, in den letzten Jahren relativ stabil entwickelt hat und nominale «Rekordniveaus» von Sozialausgaben in Relation mit dem Wachstum anderer Größen wie dem BIP zu setzen sind. Beim realen Wachstum der Sozialausgaben liegt Deutschland im OECD-Vergleich hingegen sogar auf dem drittletzten Platz. Die Mär vom stetig wachsenden Sozialstaat ermöglicht es also weiterhin, vulnerable Bevölkerungsgruppen durch Narrative von Knappheit, die ökonomische Realitäten ignorieren, gegeneinander auszuspielen und die demokratischen Grundfeste des Sozialstaates zu hinterfragen. Ein Sozialstaat ist kein unkontrollierbares bürokratisches Monstrum, das seine Bürger in unmündige Abhängigkeitsverhältnisse begibt. Er ist eine Garantie für Freiheit, Gleichheit und Demokratie, und muss wieder zu einem Vehikel werden, durch welches Politik bei den Menschen ankommt – darauf muss sich eine sozialdemokratische finanzpolitische Erzählung berufen.
Fazit oder: Warum der Staat mutig sein muss
Für die materielle Dimension des Politischen ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik natürlich immer der primäre Anknüpfungspunkt, doch dadurch ist sie nicht politisch neutral. Im Gegenteil, denn die Folgen neoliberal-konservativer Diskurshoheit in der Debatte um nachhaltige Staatsfinanzen, Verteilungsfragen sowie Steuergerechtigkeit wirken sich direkt demokratiegefährdend aus: Im staatlichen Rückzug aus öffentlichen Gütern, einer maroden Infrastruktur und öffentlichen Daseinsvorsorge und sie führen letztlich auch zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Im dauerhaften Streit, der die Koalition in Berlin konstant zu lähmen scheint, geht es letztlich um die Frage, wer das Vertrauen in der Bevölkerung zurückbekommt. Und hier ist es die diskursive Aufgabe einer linken finanzpolitischen Erzählung, Bürger:innen davon zu überzeugen, dass Aufgaben wie die Transformation, der Klimaschutz und die Wohlstandssicherung eben nicht vom Markt geregelt werden, sondern den Mut des Staates benötigen.
1 https://is.gd/wotG2Q (20.06.24).
2 Ricardo Gabriel / Mathias Klein / Sofia Pessoa: «The Political Costs of Austerity», In: Working Paper Series 418, Sveriges Riksbank, 2022.
3 https://is.gd/ZcJeQy (22.06.24).
4 Dullien, Sebastian / Gerards Iglesias, Simon / Hüther, Michael / Rietzler, Katja, «Herausforderungen für die Schuldenbremse. Investitionsbedarfe in der Infrastruktur und für die Transformation», IW-Policy Paper, Köln 2024.
5 https://is.gd/m8FraD (22.06.24).
6 https://is.gd/wotG2Q (20.06.24).
7 https://is.gd/DoPuGm (21.06.24).
8 Dullien, Sebastian / Jürgens, Ekaterina / Paetz, Christoph / Watzka, Sebastian: «Makroökonomische Auswirkungen eines kreditfinanzierten Investitionsprogramms in Deutschland», IMK Report Nr. 168, 2022.