Wenige Orte vereinen die Glanz- und Schattenseiten deutscher Geschichte so wie der Ettersberg bei Weimar. Innerhalb von knapp zwei Kilometern Luftlinie liegen hier das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald und Schloss Ettersburg. Im Schloss, einst Treffpunkt etwa von Anna Amalia, Goethe und Schiller, war am 12. Januar 2025 Schuberts Winterreise zu hören. Konstantin Krimmels kraftvolle Interpretation, die in ihren Höhepunkten unterdrückte Wut und ausbrechenden Wahn durchschimmern ließ, bestach auch mit der Intensität leiser Stellen. Gewohnt souverän, dabei berührend und mitfühlend begleitete Daniel Heide. Und doch ließ sich der Aufführungsort nicht von der Kunst trennen, beschwor die besondere Lage zwischen deutscher Hochkultur und deutscher Grausamkeit eigene Assoziationen.
Als kanonisierter Teil der deutschen Musikkultur gehört auch Schubert in die Reihe jener Komponisten, deren Musik nicht ohne den Nationalsozialismus gedacht werden kann. Schubert selbst war schon über 100 Jahre tot, als die Nazis die Macht übernahmen. Seine Musik aber war fester Bestandteil des bildungsbürgerlichen Lebens. Die gleichen Menschen, die im kleinen Kreis die Winterreise musizierten, stellten einen großen Teil der mörderischen Nazi-Eliten. Der Philosoph Slavoj Žižek nannte die „problemlose Verbindung von Hochkultur und politischer Barbarei“ besonders grausam. Seine bewusst anachronistische Lesart brachte die Winterreise mit den Erfahrungen deutscher Soldaten in Stalingrad in Verbindung. Das scheint nur auf den ersten Blick überspannt: Schubert selbst konnte von diesen Kontexten nichts ahnen, aber zur Geschichte der Rezeption seiner Musik gehören sie dazu.
Daran anknüpfend eröffnete die Nähe zum ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald bei der Aufführung auf dem Ettersberg eine Reihe neuer Assoziationen: Lassen sich nicht auch Konsonanzen mit dem „historischen Moment“ der ehemaligen KZ-Häftlinge finden? Besonders das Lied Im Dorfe weckt beunruhigende Bilder: Bellende Hunde und rasselnde Ketten lassen die Gewalt und Abgeschlossenheit im Lager erahnen. Die verzweifelte Situation des Erzählers wird kontrastiert mit den schlafenden „Menschen in ihren Betten.“ Ist das ein Mensch?, fragte Primo Levi. Vielleicht lässt sich aus der Winterreise heraus antworten: Menschen sind jene, die extreme Gewalt ausüben oder wissend geschehen lassen – und dennoch „träumen [sie] sich manches […] im Guten und Argen“, scheinbar unbeeindruckt von allem, was um sie herum passiert. Ist solch ein ‚Schläfer‘, solch ein ‚Mensch‘ zu sein wirklich erstrebenswert? Schuberts Musik und Müllers Worte scheinen die Antwort zu geben: „Ich bin zu Ende mit allen Träumen –/Was will ich unter den Schläfern säumen?“ Nichts hält den Erzähler mehr in dieser Welt.
In der doppelten Bedeutung der „Träume“ – als Erscheinung im Schlaf und als Zukunftshoffnung – liegt noch eine weitere Assoziation: Im besungenen Ende der Träume scheint auch die Hoffnungslosigkeit der entmenschlichten Insassen durch. Hannah Arendt beschrieb das Bestreben der Nazis, „alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit“ auf reine Sinnesreaktionen zu reduzieren, sie zu Exemplaren der „Spezies Mensch“ zu machen. Von dieser Entmenschlichung ist auch in Im Dorfe etwas spürbar. Wenn im nächsten Lied Der stürmische Morgen die „roten Feuerflammen“ am Himmel erwähnt werden, ist der assoziative Weg zum KZ-Krematorium nicht weit.
Was zunächst wie oberflächliche Parallelen erscheint, bekommt durch die große Verbreitung in den bildungsbürgerlichen Kreisen des 20. Jahrhunderts eine tiefere Bedeutung. Žižek stellte sich vor, wie deutsche Soldaten das „romantische Beklagen des eigenen erbärmlichen Schicksals“ nutzten, um von den Gedanken über ihre eigene Schuld und Verantwortung abzulenken. Ist es aus der Luft gegriffen, sich ähnliche Szenen bei KZ-Häftlingen vorzustellen, die sich vor der grausamen Realität in die romantische Verzweiflung retteten?
Wie zum Hohn über diese Katastrophenszenen lag auf dem Ettersberg eine weiße Schneedecke, umspielt von lieblichen Sonnenstrahlen. Der Kontrast von bildhaft schönem Ambiente und furchteinflößender Realität machte auch vor der Winterreise keinen Halt, aber schien doch darin aufgegriffen zu werden: „Als noch die Stürme tobten/War ich so elend nicht.“ In der vermeintlichen Ruhe nach dem Sturm wurde das Bestürzende erst spürbar.
In den Gedichten der Winterreise und der Musik, mit der Schubert unter ihnen existenzielle Abgründe aufriss werden Verzweiflung, Tod und Untergang behandelt. Das Grollen des Klaviers am Anfang von Im Dorfe unterstreicht nicht nur die bedrückende Szenerie. Zugleich werden darin die Trostlosigkeit völliger Verzweiflung und der feine Spott über die alltäglichen Sorgen hörbar. Die vom Sänger und Historiker Ian Bostridge beschriebene „existenzielle Angst“ in der Winterreise tut nicht, als gäbe es noch einen Trost. Schubert ließ keinen Ausweg aus der Verzweiflung. Gerade damit öffnete er jedoch den Weg zu ironischer Distanzierung von allem, was vor der Verzweiflung wichtig erschien. In ihrer Radikalität ist diese Musik modern. In ihr werden die Höhen musikalisch-dichterischer Ausdruckskraft zu kompromissloser Abgründigkeit verwendet. Die Dialektik aus Glanz und Schatten der deutschen Geschichte, die in der Winterreise zusammenschießt, bleibt aktuell. Der versinnbildlichte Tod in Figur des Leiermanns aus dem letzten Lied dreht auch zu unseren Liedern seine Leier.