Von Gramsci zum Wiedererstarken der politischen Linken: Was ist und wie funktioniert Hegemonie? – Über Gramsci und sein Werk

Antonio Gramsci ist einer der bedeutendsten marxistischen Denker des 20. Jahrhunderts und seine Überlegungen zu Hegemonie gelten als Schlüssel zur Analyse von Machtstrukturen und gesellschaftlicher Herrschaft. Seine Ideen werden bis heute ausgesprochen breit rezipiert.1 In Gramscis Hauptwerk, den Gefängnisheften, entwickelt er Aspekte und Facetten von Hegemonie, die weit über die alltagssprachliche Verwendung als Vorherrschaft oder als Macht über etwas hinausgehen. So unterscheidet sich Hegemonie bei Gramsci grundlegend von rein repressiven Formen der Herrschaft, stattdessen hebt er die Rolle von Kultur, Ideologie und Konsens hervor. 

Antonio Gramsci lebte in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche und politischer Krisen. Geboren 1891 in Sardinien, engagierte er sich früh in der italienischen Arbeiterbewegung. Dabei war er insbesondere in Turin aktiv, wo er ab 1911 u.a. Philologie studierte und später ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens wurde. Gramsci arbeitet als Journalist und schrieb unter anderem für Il Grido delPopolo, L’Avanti und die von ihm 1919 mitgegründete L’Ordine Nuovo. Mit der Abspaltung der Partito Communista d’Italia (PCdI) von der Partito Socialista Italiana im Jahre 1921 wurde Gramsci Mitglied der PCdI, für die er u.a. nach Wien und Moskau reiste. In Moskau lernte er seine spätere Frau Julia Schucht kennen, mit der er zwei Söhne, Delio und Giuliano, hatte. 1924 wurde er für die Region Veneto Abgeordneter im italienischen Parlament und er war ab 1925, u.a. aufgrund der gewaltsamen Verfolgung der Parteispitze der PCdI durch die Faschisten, Vorsitzender der PCdI. Nach der Machtergreifung Mussolinis wurde Gramsci 1926 verhaftet und verbrachte viele Jahre seines Lebens in faschistischer Gefangenschaft. Während dieser Zeit und bis zu seinem Tod 1935 schrieb er zwischen 1929 und 1945 die berühmten Gefängnishefte, die sein theoretisches Vermächtnis bilden.2 

Gramscis «Philosophie der Praxis», wie er sie selber nannte, baut auf der marxistischen Theorie auf, erweitert diese jedoch entscheidend. Klassische marxistische Theorien betonten vor allem die ökonomische Basis von Herrschaft, die aus den Produktionsverhältnissen resultiert. Mit Gramscis Historischem Materialismus lässt sich sagen, dass der Mensch auch seine materiellen Bedingungen selber hervorbringt und dass diese (politisch) änderbar sind: «Bei diesem Ausdruck ‹historischer Materialismus› hat man das Hauptgewicht auf das zweite Glied gelegt, während es dem ersten gegeben werden müßte: Marx ist wesentlich ›Historizist‹ usw. »3 

Gramsci rückte die Rolle von Ideologie und Kultur ins Zentrum seiner Analyse. Dabei griff er auf das Werk von Marx, Lenin sowie auf die Ideen des italienischen Philosophen Benedetto Croce zurück und verband diese mit seiner eigenen kritischen Perspektive auf die Bedingungen und Formen politischer Macht: «Nicht das ‹Denken› sondern das, was wirklich gedacht wird, vereint oder unterscheidet die Menschen. Daß das ›menschliche Wesen‹ das ›Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse‹ sei, ist die befriedigenste Antwort, weil sie die Idee des Werdens einschließt […].»4

Hegemonie(n)

Wie erwähnt taucht der Hegemoniebegriff in den Gefängnisheften in verschiedenen Bedeutungen und Kontexten auf. Hegemonie war als politisch-theoretischer Begriff in der radikalen russischen Sozialdemokratie geläufig und wurde bereits 1905 von Lenin benutzt, indem er ein strategisches Bündnis mit der Kleinbourgeoisie und Bäuer:innen unter Führung der Arbeiter:innenschaft vorschlug. In dieser Bedeutung, Hegemonie als Verhältnis von Führung zwischen der Arbeiter:innenklasse über die Bäuer:innen des italienischen Südens.«5 In den Gefängnisheften stellte sich Gramsci die Frage, weshalb es mit der Oktoberrevolution 1917 im Osten zu einer Revolution gekommen war, während die Umsturzversuche in Westeuropa während und nach dem Ersten Weltkrieg erfolglos blieben. Eine Antwort auf diese Frage lag für Gramsci in der unterschiedlichen Geschichte der westlichen Staaten im Vergleich zu Russland. So beschäftigte er sich mit der Französischen Revolution und dem italienischen Risorgimento und kam zu dem Schluss: «Es kann und es muss eine ‹politische Hegemonie› auch vor Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben.»6 Historisch war die bürgerliche Klasse also in der Lage, den Staat gemäß den eigenen Vorstellungen umzugestalten, ökonomische Rechte und demokratische Verfahren institutionell zu verankern, und einen neuen «historischen Block» zu bilden, so dass das Bürgertum, wie Gramsci es nannte, zum «Staat wird».7 Durch die bürgerlichen Revolutionen haben sich in Europa so ein Staatswesen und eine Öffentlichkeit herausgebildet, die nach Gramsci für das Verständnis von Macht und Herrschaft essentiell sind:

«Die ‹normale› Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich die Waage halten, ohne daß der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit, wie er in den sogenannten Organen der öffentlichen Meinung (die daher in gewissen Situationen) künstlich vermehrt werden.»8

Gramsci definiert Hegemonie hier als eine Form der Herrschaft, die nicht allein auf Zwang und Gewalt beruht, sondern primär durch Konsens und die Zustimmung der Beherrschten gesichert wird. Sie ist ein komplexer Prozess, in dem eine herrschende Klasse oder Gruppe ihre Vorstellungen, Werte und Normen so durchsetzt, dass diese von der breiten Gesellschaft als natürlich, universell und alternativlos wahrgenommen werden. Damit unterscheidet sich Hegemonie von rein repressiver Herrschaft, die auf Gewalt und Zwang basiert. Gramsci betonte, dass Hegemonie kein statischer Zustand sei, sondern ein dynamischer Prozess, der fortlaufend erneuert, angepasst und verteidigt werden müsse, da er stets von alternativen Weltanschauungen und Ordnungen herausgefordert werden könne. Ein zentraler Aspekt von Gramscis Hegemoniebegriff ist dabei die Unterscheidung zwischen «Zivilgesellschaft» und «politischer Gesellschaft»: 

«[…] Gleichsetzung von Staat und Regierung, einer Gleichsetzung die gerade ein Wiederauftauchen der korporativ-ökonomischen Form ist, das heißt der Verwechslung von Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft, denn es ist festzuhalten, daß in den allgemeinen Staatsbegriff Elemente eingehen, die dem Begriff der Zivilgesellschaft zuzuschreiben sind (in dem Sinne, könnte man sagen, daß Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang). »9 

Auch hier erweitert Gramsci, indem er die politische Bedeutung des vermeintlich Privaten hervorhebt, die gängigen Vorstellungen von der Funktionsweise des Staates, bzw. davon, was Regierung bedeutet und wie Macht ausgeübt wird. Die Zivilgesellschaft umfasst jene Bereiche, in denen kulturelle und ideologische Prozesse ablaufen – wie Familie, Kirchen, Bildungssysteme, Medien und Kunst. Sie ist der Ort, an dem Konsens geschaffen wird. Die politische Gesellschaft hingegen umfasst den Staat und seine Institutionen wie Regierung, Polizei und Militär, die Zwangsmittel einsetzen, um Herrschaft durchzusetzen. 

Eine zentrale Rolle bei der Herstellung von Konsens nehmen die Intellektuellen ein. Für Gramsci sind Intellektuelle keine isolierten Denker oder prominenten Personen, sondern aktive Akteure, die in den Dienst einer Klasse treten und deren Weltanschauung verbreiten. Ihnen kommt im Kampf um Hegemonie eine besondere Bedeutung zu, denn sie befördern die intellektuelle und moralische Führung einer Klasse oder Gruppe in Gesellschaften. 

In Heft 19 der GH erklärt Gramsci, «dass sich die Suprematie einer gesellschaftlichen Gruppe auf zweierlei Weise äußert, als ‹Herrschaft› und als ‹intellektuelle und moralische Führung›. Eine gesellschaftliche Gruppe kann und muss sogar führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert (das ist eine der Hauptbedingungen für die Eroberung der Macht); danach, wenn sie die Macht ausübt und auch fest in Händen hält, wird sie herrschend, muss aber weiterhin auch ‹führend› sein.»10

Gramsci, politische Krisen und die Linke

Um Hegemonie zu erlangen, muss eine Klasse eine kohärente Weltanschauung entwickeln und verbreiten, die breite Teile der Gesellschaft anspricht. Gramsci spricht daher auch von Hegemonie als pädagogischem Verhältnis:

«Dieses Verhältnis existiert in der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und für jedes Individuum in bezug auf andere Individuen, zwischen intellektuellen und nicht-intellektuellen Schichten, zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Eliten und Anhängern, zwischen Führenden und Geführten, zwischen Avantgarden und dem Gros der Truppen. Jedes Verhältnis von ‹Hegemonie› ist notwendigerweise ein pädagogisches Verhältnis und ergibt sich nicht nur im Innern einer Nation, zwischen verschiedenen Kräften, aus denen sie sich zusammensetzt, sondern auf der gesamten internationalen und globalen Ebenen, zwischen nationalen und kontinentalen Zivilisationskomplexen.»11

Gramsci betont, dass Hegemonie kein endgültiger Zustand ist, sondern Hegemonie immer wieder herausgefordert werden kann. Dieser Prozess der Herausforderung wird besonders dann deutlich, und wird zu einer Krise von Hegemonie, wenn subalterne Klassen, also die untergeordneten und marginalisierten Gruppen einer Gesellschaft, ihre eigene Weltanschauung entwickeln und versuchen, diese gegen die bestehende hegemoniale Ordnung durchzusetzen. In ökonomischen Systemen, die wie der (globale) Kapitalismus auf Ungleichheiten und Hierarchien gegründet ist, und politischen Systemen, wie den aktuellen westlichen parlamentarischen Demokratien, die politische Teilhabe kommt es häufig zu Unzufriedenheiten und Krisen. Diese Krisen können sowohl als Krisen der Verteilungsgerechtigkeit als auch als Krisen politischer Repräsentation in Erscheinung treten. Historisch beschreibt Gramsci die Ursachen dieser politischen Krisen in den Gefängnisheften so:

«In jedem Land ist der Prozeß ein anderer, obwohl der Inhalt der gleiche ist. Und der Inhalt ist die Hegemoniekrise der führenden Klasse, die entweder eintritt, weil die führende Klasse in irgendeiner großen politischen Unternehmung gescheitert ist, für die sie den Konsens der großen Massen mit Gewalt gefordert oder durchgesetzt hat (wie der Krieg), oder weil breite Massen (besonders von Bauern und intellektuellen Kleinbürgern) urplötzlich von der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität übergegangen sind und Forderungen stellen, die in ihrer unorganischen Komplexität eine Revolution darstellen. Man spricht von ‹Autoritätskrise›, und das eben ist die Hegemoniekrise oder Krise des Staates in seiner Gesamtheit.»12

In den letzten Jahrzehnten ist im Westen sowohl in Bezug auf die gemäßigte Linke, die den Parlamentarismus und die kapitalistische Wirtschaftsordnung bejaht, als auch auf die radikale Linke, die eine andere Ordnung anstrebt, klar zu beobachten, dass Konzepte und Alternativen fehlen und somit eine intellektuelle und politische Führung schwindet und Perspektiven fehlen, die über den Status Quo hinausdeuten. Währenddessen ist die autoritäre und totalitäre Rechte in vielen Ländern stark geworden und fordert in der Abwesenheit von politischen Programmen und Visionen für die Zukunft und den ökonomischen Versprechungen des Kapitalismus die bestehende Ordnung und Hegemonie erfolgreich heraus. Dabei kommt es nicht von ungefähr, dass sich die Neue Rechte Gramsci angeeignet hat.13 Bei Gramsci wird deutlich, wie sehr politische und gesellschaftliche Akteur:innen in der Lage sein müssen, Lösungen zu formulieren und diese populär zu machen. In dieser Situation sind für eine Stabilisierung der liberalen Demokratie neue Formen von ökonomischer und politischer Teilhabe notwendig, um entweder den Konsens zur bürgerlichen Herrschaft zu aktualisieren oder ein demokratischeres System zu entwickeln. 

1 Für eine umfassende Einführung in Gramscis Werk, sowie insbesondere zu dessen Rezeption, siehe auch Johannes Bellermann (2021) Gramscis politisches Denken.

2 Zur Biografie Gramscis siehe insbesondere Giuseppe Fiori (1979) Das Leben des Antonio Gramsci, Berlin.

3 Antonio Gramsci 1991ff, Bd. 3, H4, §11, S. 471.

4 Ebd., Bd. 4, H7, §35, S. 891.

5 Antonio Gramsci (1986) Zu Politik, Geschichte und Kultur, S. 191.

6 Antonio Gramsci 1991ff, H1, §44, S. 102.

7 Vgl. Bellermann 2021: 86f.

8 Ebd., Bd. 1, H1, §48, S. 120.

9 Ebd., Bd. 4, H6, §88, S. 783.

10 Ebd., Bd. 8, H19, §24, S. 1847.

11 Ebd., Bd.7, H10 II, §44, S. 1334.

12 Ebd., Bd. 7, H13, §23, S. 1577f.

13 Für einen kurzen Überblick zur Rezeption von Gramsci durch die Neuen Rechten seit den 1980er-Jahren siehe Bellermann 2021: 195ff.