Wenn das Alte stirbt und das Neue noch nicht zur Welt gekommen ist: Über linke Hegemonie

Vielen aktuellen Ereignissen könnte man derzeit eine ganze Ausgabe widmen: dem Scheitern der Ampelkoalition, den bevorstehenden Neuwahlen oder auch neuen Regierungskonstellationen auf Landesebene und damit einhergehenden Herausforderungen für die Demokratie. Auch zu den Auswirkungen der zweiten Amtszeit von Donald Trump auf Europa und die Weltpolitik, zum Nahostkonflikt und Antisemitismus, zur Realität einer inhumanen Asylpolitik und zum fortwährenden Krieg in der Ukraine ließe sich gut begründet eine Ausgabe gestalten. In anderen Worten: An der multiplen Krisenkonstellation, an der man sich analytisch umfangreich abarbeiten könnte, hat sich auch im Jahr 2024 nichts geändert. 

Die Endlos-Schleife aus immer neuen Krisen, die sich oft gegenseitig bedingen, und damit verbundenen schlechten Nachrichten ruft jedoch in immer mehr Menschen auch ein Gefühl der Hilflosigkeit hervor. Im schlimmsten Fall entfremden sich Menschen von der Politik, mindestens aber führt der Dauerkrisenmodus dazu, dass das Sehen neuer Perspektiven und das Denken in Alternativen erschwert werden. Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner warnt im Format «Unboxing News» von Deutschlandfunk Nova daher auf individueller Ebene vor der Anfälligkeit für Populismus und Extremismus in Krisenzeiten, «[w]eil der Körper im Ausnahmezustand nicht in der Lage ist abzuwägen, Grautöne zu sehen und sich mit neuen oder anderen Perspektiven auseinanderzusetzen.»1 

Auch aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, dass wir mit dieser Ausgabe die Hektik in Krisenzeiten nicht weiter anheizen möchten. Vor allem aber sind wir überzeugt, dass die politische Linke und insbesondere die Sozialdemokratie in ihrem aktuellen Modus des Machterhalts, der Problemverwaltung und Spiegelstrichpolitik irrt und ihr die Lage entgleitet. Für uns steht fest, dass die existenzielle Krise der politischen Linken kein bloßes Kommunikationsproblem ist, sondern dass es ihr vor kommunikativen Nebenschauplätzen derzeit an erster Stelle nicht gelingt, eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu formulieren und aus dieser das glaubhafte Versprechen einer gerechten Zukunft mit strukturellen und überzeugenden Lösungsvorschlägen zu entfalten. Politik muss dafür wieder in langen Linien gedacht werden. 

Für den marxistischen Denker Antonio Gramsci zeichnete eine Krise aus, was er in seinen Gefängnisheften verschriftlichte: dass das Alte zwar stirbt, das Neue aber noch nicht zur Welt gekommen ist und innerhalb dieses Interregnums verschiedene Krisensymptome auftreten. In Krisenzeiten helfen kann auch sein Hegemonieverständnis, das paradoxerweise und erschreckenderweise von der Neuen Rechten verstanden wurde, während es von der politischen Linken vernachlässigt oder fehlinterpretiert wird. 

Wir wollen mit dieser Ausgabe daher einen Beitrag dazu leisten, dass Hegemonie von linken Akteur:innen – wenn überhaupt ideell präsent – nicht weiter als marktkonformes Kommunizieren missverstanden wird. Denn wenn Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel in ihrem gemeinsam verfassten Buch über «defekte Debatten» schreiben und sich der Philosoph Jürgen Habermas mit über 90 Jahren noch einmal mit einem neuen Strukturwandel beschäftigt, dann scheinen die Probleme tiefer zu liegen.2 

Eine Auseinandersetzung mit dem Hegemoniebegriff Gramscis wird gewiss nicht alle Probleme lösen. Sie kann aber dabei helfen, die Probleme der politischen Linken in ihrer Tiefe besser zu verstehen. Daher liegen dieser Ausgabe die folgenden Leitfragen zugrunde: Was ist und wie funktioniert Hegemonie? Wie lassen sich Hegemonien inhaltlich füllen? Welche Ideen sollten hegemonial werden? Und wie lässt sich der rechten Hegemonie effektiv von links begegnen? 

Um Antworten auf diese Leitfragen zu finden, entfaltet Johannes Bellermann zu Beginn dieser Ausgabe der «jungen perspektiven» lektürenah den Hegemoniebegriff von Gramsci und führt in dessen politisches Denken ein. Lukas Thum knüpft daran an und fächert die Entstehung von Hegemonie laut Gramsci analytisch auf, um anschließend der Frage nachzugehen, was gewährleistet sein müsste, damit die Sozialdemokratie die Hegemonie gegenüber Konservativen und Rechtsextremen erringen kann. Der darauf folgende Artikel von Emilia Henkel analysiert Diskursverschiebungen nach rechts und fragt kritisch danach, warum sich eine Regierung, die aus liberalen und sich links der Mitte verorteten Parteien besteht, mit der Abwehr von Schutzsuchenden brüstet. Anschließend richtet Roman Behrends den Fokus auf die Jugend und beschäftigt sich in seinem Artikel damit, wie die Rechte die Jugendkultur einnimmt und was die politische Linke dagegen machen kann. Louisa Anna Süß reflektiert die Rolle der Kommunikation und Hegemonie in der Kommunalpolitik, ehe Emma Würffel rechte Hegemonie im ländlichen Raum, besonders in Ostdeutschland, thematisiert. Johanna Liebe fragt, wer derzeit eigentlich noch ein glaubwürdiges linkes Zuhause anbietet und nimmt dabei auch die Jugendorganisationen in den Blick. Abgeschlossen wird diese Ausgabe mit zwei Beiträgen zum feministischen Diskurs: Lina-Marie Eilers und Laura Clarissa Loew arbeiten sich an «Feministisch Streiten 2» von Koschka Linkerhand ab und verbinden eine Besprechung des Bandes mit einer Reflexion des feministischen Selbstverständnisses der Juso-Hochschulgruppen, aber auch der «jungen perspektiven». Die Rezension von Clara Schüssler, die sich mit dem Sammelband «Materialistischer Queerfeminismus» von Friederike Beier beschäftigt, steht am Schluss dieser Ausgabe der «jungen perspektiven». 

1 DLF Nova: Klima, Krieg, Politik in der Krise. Wie wir bei den aktuellen News nicht durchdrehen, https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/klima-krieg-politik-in-der-krise-wie-wir-bei-den-aktuellen-news-nicht-durchdrehen.

2 Vgl. Julia Reuschenbach, Korbinian Frenzel: Defekte Debatten. Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen. Berlin 2024 sowie Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin 2022.