Narrative, Framing, Diskursverschiebung – diese Vokabeln werden rund um den Bundestagswahlkampf im Polit-Journalismus immer wieder fallen. Unter anderem sind es diese Vokabeln, die auch in den Parteizentralen das Nachdenken über Wahlkampfstrategien bestimmen. Dabei soll die typisierte Bevölkerung mit bestimmten Narrativen konfrontiert werden, um in einem Diskursraum eine bestimmte Dominanz einzunehmen, möglichst bei einer Mehrheit der Bevölkerung. Kurz gesagt geht es vermeintlich um eine (Diskurs-)Hegemonie.
Im August 2023 wurde dem Team um Olaf Scholz genau diese Strategie in der FAZ unterstellt.1 Dabei ginge es dem Team Scholz «um die Produktion zustimmungsfähiger Ideen.»2 Ob mit dieser zustimmungsfähigen Idee der Begriff Respekt gemeint war, mit dem Olaf Scholz den Wahlkampf 2021 nicht verloren hatte, wird in der FAZ nicht genau benannt. Was auch immer jedoch Inhalt der vom Team Scholz angestrebten Hegemonie sein sollte, die Vorstellung von Hegemonie als Produktion zustimmungsfähiger Ideen um in einem Diskurs dominant zu werden – wie es der FAZ-Artikel wiedergibt – hat grundlegende Probleme.
Um das erste Problem zu erkennen, sei auf den Text von Johannes Bellermann in dieser Ausgabe verwiesen. Hier wird schnell klar, dass – zumindest wenn der kritische Impetus des Begriffs erhalten bleiben soll – Antonio Gramscis Hegemonie-Begriff anders funktioniert. Nicht die Produktion zustimmungsfähiger Ideen steht bei Gramsci im Vordergrund, sondern ein «pädagogisches Verhältnis»3, in welchem Zustimmung produziert wird. Hegemonie ist nicht das Anpassen der Idee an den Konsens, sondern die Erziehung zum Konsens.
Der Fokus auf die Diskursdimension von Hegemonie hat ein zweites Problem: Dieser Zugang verschleiert häufig die Frage danach, was eigentlich hegemonial wird. Basiert eine Hegemonie schlicht auf einem Narrativ, welches dominant ist und eine bestimmte Sichtweise auf die Welt den Menschen einschreibt? Oder braucht es mehr, um eine Hegemonie zu begründen? Je nachdem, wie die Antwort auf diese Frage lautet, müssen auch die Strategien für Gegen-Hegemonien verändert werden. Um diese Fragen zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf den Ursprung von Hegemonien bei Gramsci.
Der Ursprung der Gegen-Hegemonie und die Temporalitäten des Alltagsdenkens
Die eigene Weltauffassung antwortet auf bestimmte von der Wirklichkeit gestellte Probleme, die in ihrer Aktualität ganz bestimmt und «originell» sind.4
Alles beginnt für Gramsci mit einem Problem. Um einen Begriff aus der feministischen Epistemologie zu borgen, könnte es als standpunktbezogenes Problem bezeichnet werden: Ein Problem, welches für eine bestimmte Gruppe von Menschen einzigartig ist.
Als Antwort auf diese Problemstellungen, mit denen sich die Einzelnen und bestimmte Gruppen konfrontiert sehen, entsteht ein erster Lösungsimpuls. Dieser erste Impuls wird von Gramsci als Ideologie bezeichnet:5 «Ideologie ist jede partikuläre Auffassung der inneren Gruppe der Klasse, die sich vornehmen, die Lösung unmittelbar und umgrenzter Probleme zu unterstützen.»6 Der Ursprung jeder Hegemonie liegt in diesem ideologischen Impuls, der auf ein partikulares Problem einer bestimmten Gruppe innerhalb einer Gesellschaft antwortet. Doch braucht eine Hegemonie – als komplementärer Begriff zur (repressiven) Autorität des Staates – nach Gramsci ein Moment der Universalität.7
Bevor darauf eingegangen wird, wie diese Universalität hergestellt wird und was dies eigentlich bedeutet, müssen zuerst die Begriffe Ideologie, Philosophie, Folklore und Alltagsverstand und ihr Verhältnis zueinander erläutert werden.
Das Wissen von Menschen, ihre Weltanschauung, ist fragmentarisch und widersprüchlich. In die Welt geworfen werden Menschen beispielsweise christlich erzogen, bekommen in der Schule und Uni neoliberale Werte beigebracht, sie glauben vielleicht an Astrologie oder Geistergeschichten und versuchen sich dennoch bewusst eine kritische Sichtweise auf die Welt anzueignen. All dies, vom bewussten Lernen über unbewusste Lernprozesse bis zu Relikten einer vormodernen Zeit, hallen im Denken der Menschen wider: «[D]ie eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt: es finden sich in ihr Elemente der Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten gesellschaftlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie […].»8
Diese unterschiedlichen Inhalte der Weltanschauung der Menschen spiegeln unterschiedliche Temporalitäten wider. Nicht nur lebt die Vergangenheit weiter, zugleich kann auch die Zukunft entstehen. Hier kommen Gramscis Begriffe von Folklore, Alltagsverstand und Philosophie ins Spiel.
Folklore ist für Gramsci der fragmentarischste Teil einer Weltanschauung. Sie ist ein «System von Glaubensinhalten, [bestehend aus] Aberglauben, Meinungen, Sicht- und Handlungsweisen»9 und hat das «Wunderbare und Unwahrscheinliche»10 zum Gegenstand. In der Folklore überdauert Vergangenes als Sediment der Weltanschauung der Menschen. Sie ist dabei jedoch starr, im Gegensatz zum Alltagsverstand.
Der Alltagsverstand zeichnet sich durch eine passive Rezeption aus.11 Anders als die Folklore, die rigide in die Weltauffassung der Menschen eingegangen ist, versteht Gramsci den Alltagsverstand als veränderlich, als reflexiv zur Welt. Er «verändert sich fortwährend, indem er sich mit in das Alltagsleben übergegangenen wissenschaftlichen Begriffen und philosophischen Meinungen anreichert.»12 Gramsci betont, dass der Alltagsverstand für jede soziale Schicht oder Klasse anders sein kann.13 Es ist der Alltagsverstand, in den sich Hegemonien einschreiben. Gleichzeitig ist es aber auch die Veränderlichkeit des Alltagsverstands und die Abhängigkeit von der sozialen Stellung, die ihn reflexiv zu den schon erwähnten ideologischen Impulsen als Reaktion auf einen bestimmten Problemhorizont macht. Diese Impulse, die über die hegemoniale Weltanschauung hinausgehen, bilden den Ausgangspunkt für die Reflexion über den Alltagsverstand und den Kern des gesunden Menschenverstandes.14 Aber auch hier im Alltagsverstand sind verschiedene Temporalitäten am Werk. Dem gesunden Menschenverstand gehört die Zukunft, der Hegemonie und den in ihr wirksamen Begriffen gehört die Gegenwart und gleichzeitig enthält der Alltagsverstand auch weiterhin Elemente der Vergangenheit.
An den gesunden Menschenverstand schließt nun für Gramsci die Philosophie an. Bilden die ideologischen Impulse den Kern des gesunden Menschenverstandes, dann unterscheidet sich die Philosophie in drei Weisen von diesem: in ihrer Kohärenz,15 ihrer Universalität16 und ihrer Temporalität. Denn schafft es eine Philosophie, sich durch Kritik zu universalisieren und sich als «ursprünglicher Ausdruck»17 der Wirklichkeit darzustellen, dann beginnt damit eine neue Epoche, eine neue Zeit. Diese neue Zeit ist für Gramsci nicht einfach eine Fortsetzung der bisherigen, sondern die neue hegemoniale Weltanschauung komprimiert die vorher diversen Temporalitäten in eine singuläre Zeit und startet diese neu. Vor dem Hintergrund dieser neuen singulären Zeit, dieser neuen Epoche, spielt sich das Spiel der bis hierhin beschriebenen pluralen Zeiten in Folklore und Alltagsverstand wieder von Neuem ab.18
Die Kritik der alten als Geburt der neuen Zeit
Hier kann die Frage der Universalität wieder aufgenommen werden. Hegemonie stützt sich auf die Universalisierung einer Ideologie. Das Produkt dieser Universalisierung nennt Gramsci schlicht die Philosophie einer Klasse. Daran schließen sich zwei Fragen an: Wie läuft diese Universalisierung ab? Und welche partikularen Impulse eignen sich dafür?
Im Zentrum des Übergangs von der Ideologie einer Gruppe zur Philosophie einer Gruppe und dann zur Hegemonie steht bei Gramsci die Kritik. Dabei ist die Kritik des eigenen Alltagsverständnisses bzw. des Alltagsverstandes der eigenen Gruppe oder Klasse nicht etwas der gegen-hegemonialen Bewegung Vorgelagertes. Die Kritik ist Teil des Kampfes um die Hegemonie, indem sie über die Ethik und die Politik hinausgeht und zu «einer höheren Ausarbeitung der eigenen Auffassung des Wirklichen […]»19 gelangt.
Die Kritik, die Universalisierung und damit der Kampf um Hegemonie spielt sich für Gramsci also nicht bloß in der Sphäre der (institutionalisierten) Politik ab. Vielmehr enthält der Kampf um eine Gegen-Hegemonie grundlegend ein epistemisches Moment: Es geht nicht darum, nur die Macht zu erlangen, sondern einer neuen Wahrheit über die Welt zur Macht zu verhelfen. Kritik soll den «alten Kollektivwille[n] […] in seine widersprüchlichen Elemente»20 zerschlagen und so zur «Aufhebung der vorhergehenden Denkweisen»21 beitragen, um das, «was zweitrangig und untergeordnet oder auch beiläufig war, […] als hauptsächlich»22 aufzunehmen. Um eine neue Hegemonie zu erlangen, muss das, was bisher für wahr gehalten wurde, hinterfragt werden. Nur so können die zur gegenwärtigen Hegemonie widersprüchlichen Elemente der Subalternen, der Unterdrückten, zur Geltung gebracht werden.
Doch bedeutet dies für Gramsci nicht die unreflektierte Übernahme einer subalternen Erfahrungswelt. Wie schon angedeutet würde dies bedeuten, die partikularen Lösungen, die im ersten ideologischen Impuls enthalten sind, schlicht als neue Wahrheit zu setzen. Doch wie schon im vorherigen Teil gesehen, sind diese ideologischen Impulse ebenfalls divers und konkurrieren im Alltagsverstand der subalternen Gruppen mit unterschiedlichen anderen Weltanschauungen. Um hegemonial werden zu können, muss aus den Ideologien eine kohärente Philosophie werden, die am Beginn einer neuen Zeit stehen kann.
Um diese Bewegung von Partikularen zum Universellen zu beschreiben, verwendet Gramsci folgendes Bild:
«Derselbe Lichtstrahl geht durch verschiedene Prismen hindurch und ergibt verschiedene Brechungen des Lichts: wenn man dieselbe Brechung erhalten will, ist eine ganze Serie von Korrekturen der einzelnen Prismen erforderlich.»23
Dieses Bild ließe sich wie folgt übersetzen: Die materiellen Probleme, denen sich die Menschen einer Gruppe oder einer Klasse gegenübersehen, hinterlassen zwar ähnliche, jedoch nicht identische Muster in den Weltanschauungen der Menschen. Daher schreibt Gramsci weiter:
«Die reale Identität unter der scheinbaren Differenzierung und Widersprüchlichkeit und die substantielle Verschiedenheit unter der scheinbaren Identität zu finden, das ist die heikelste, am wenigsten verstandene, dennoch wesentlichste Gabe des Kritikers der Ideen und des Historikers der geschichtlichen Entwicklung.»24
Wird diese reale Identität gefunden, wird aus der Ideologie einer Gruppe durch Selbstkritik innerhalb dieser Gruppe eine Philosophie, dann kann aus ihr eine neue Hegemonie werden. Indem eine neue Philosophie aus ihrer Subalternität befreit wird und zur Geltung kommt, übersteigt sie ihren partikularen Problembereich. Als Wahrheit über die Welt schreibt sie sich der «Wirklichkeit selbst ein, als ob sie deren ursprünglicher Ausdruck wäre. In diesem Sich-Einfügen liegt ihre konkrete Universalität».25
Neu und von Unten
Der Übergang von der partikularen Ideologie zur universellen Philosophie ist das Produkt einer Kritik, die zwei Seiten hat: Zum einen hebt sie die Wahrheiten der bestehenden Welt auf. Sie historisiert sie und entlarvt ihre Zeitlichkeit. Zum anderen kritisiert sie die partikulare Ideologie der subalternen Gruppe, die hegemonial werden will, und versucht so, die reale Identität dieser Ideologien und ihrer Begriffe kohärent in eine Philosophie zu überführen. Dadurch verschwinden die im Alltagsverstand der Gruppe enthaltenen verschiedenen Temporalitäten. Die neue Philosophie, die neue Weltanschauung, setzt sich wiederum selbst als überzeitliche Wahrheit, die schon immer Ausdruck der Welt war. Sie schafft damit eine neue Welt.
So ist nun auch klar, wo eine gegen-hegemoniale Bewegung ansetzen muss: Die neue Welt kann nur von unten gedacht werden, jedoch nicht simpel in einem Übernehmen subalterner Partikularitäten, sondern durch den Prozess der Kritik. Dies bedeutet jedoch, dass gegen-hegemoniale Bewegungen immer außerhalb der bestehenden Verhältnisse bzw. an deren Rändern beginnen müssen.
Nach dem Gesagten ist verständlich, wieso der Versuch der SPD, mit Respekt eine Hegemonie zu begründen, unsinnig war. Ohne hier eine ausführliche Analyse zu formulieren, blieb der Begriff Respekt unkritisch. Respekt wurde für die Arbeit im System gezollt. So fehlte diesem Ansatz die Kritik des Bestehenden und des Denkens von Unten. Auch die Hegemonie der Rechten ist eigentlich keine neue Hegemonie. Wie Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung herausgearbeitet haben, ist der Faschismus nicht eine vom liberalen Kapitalismus grundverschiedene Gesellschaftsform. Beide bauen auf dem gleichen falschen Weltverhältnis auf, die sich im Antisemitismus bemerkbar macht.26
Will die Sozialdemokratie also tatsächlich eine Hegemonie gegen Konservative und Rechtsextreme erringen, dann würde dies Folgendes bedeuten: 1) Sie müsste wieder von Unten denken lernen. Das bedeutet aber auch gegen den Staat und das System zu denken,27 das Aktuelle infrage zu stellen. 2) Sie müsste mehr Energie in eine kritische Bildung und Wissenschaft stecken, sowohl nach innen als auch nach außen in jene Gruppen, für die die Sozialdemokratie Partei ergreifen will. Mit der aktuellen Kampagne für die Bundestagwahl im Februar 2025 scheint sich die SPD jedoch endgültig im falschen Weltverhältnis – welches Adorno und Horkheimer beschreiben – einzurichten und öffnet damit unabsichtlich dem Faschismus Tür und Tor, statt sich auf die Seite subalterner Gruppen zu stellen und für eine neue Zeit zu streiten.
1 Mona Jaeger, «Was Scholz, Merkel und Schröder gemeinsam haben», Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. August 2023, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/scholz-merkel-schroeder-was-die-kanzler-gemeinsam-haben-19065031.html (zul. 28.11.2024).
2 ebd.
3 GH 10.II §44, 1335 zitiert nach Antonio Gramsci, Gramsci Gefängnishefte Gesamtausgabe in 10 Bänden, hg. von Klaus Bochmann, 1. Aufl (Hamburg: Argument Verl, 2012).
4 GH 11 §12, 1376.
5 Es ist wichtig, Gramscis Ideologie-Begriff von Ideologie als falsches Bewusstsein zu unterscheiden. Zu Gramscis Ideologie-Begriff vgl. bspw. Michele Filippini, Using Gramsci: A new approach (Pluto Press, 2016), 4–24.
6 GH 10.I §10, 1246.
7 Vgl., GH 13, §5, 1543.
8 GH 11, §12, 1376.
9 Ebd., 1375.
10 GH 6, §153, 823.
11 Vgl. Guido Liguori, «Common Sense / Senso Comune: Gramsci Dictionary», Nr. 14 (2021): 126.
12 GH 1, §65, 137.
13 Vgl., ebd., 136.
14 GH 11, §12, 1379.
15 Vgl., ebd., 1376.
16 Vgl., GH 9, §63, 1120.
17 Ebd.
18 Zu Gramscis Temporalität und zum Epochen-Begriff vgl. Michele Filippini, «On Gramscian Temporality», in A missed encounter: Walter Benjamin and Antonio Gramsci, hg. von Dario Gentili, Elettra Stimilli, und Gabriele Guerra, Marx and Marxisms (New York, NY: Routledge, 2024), 65–82 und Frank Engster, «Benjamin’s Break With Newtonian Time and the Introduction of Relativist Space-Time Into Critique»«, in A missed encounter: Walter Benjamin and Antonio Gramsci, hg. von Dario Gentili, Elettra Stimilli, und Gabriele Guerra, Marx and Marxisms (New York, NY: Routledge, 2024).
19 GH 11, §12, 1384.
20 GH 8, §195, 1051.
21 GH 11, §12, 1382.
22 GH 8, §195, 1051.
23 GH 24, §3, 2177.
24 Ebd..
25 GH 9, §63, 1120.
26 Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: philosophische Fragmente, 26. Auflage, ungekürzte Ausgabe, Fischer-Taschenbücher Fischer Wissenschaft 7404 (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1988), vor allem Element I und VI.
27 Was nicht gleichbedeutend ist mit der Ablehnung jeglicher Staatlichkeit und auch keine fundamentale Negation des Bestehenden zur Folge haben muss.