Folgt man Antonio Gramsci, ist Hegemonie eine spezifische Art der gesellschaftlichen Ausübung von Macht. In seinen berühmten Gefängnisheften (1929-1935) erweitert er das Verständnis von Hegemonie, dass ein Akteur (sei es Person oder Staat) über andere Herrschaft ausübt, indem er einen weiteren Begriff ansetzt und den Ort der Auseinandersetzung in der Zivilgesellschaft begreift. Dort fände diskursiv der Kampf um kulturelle Hegemonie statt, die alle betreffe: von Berufspolitiker*innen, Verwaltungsangestellten, Vereinsvorsitzenden bis zum Nachbarn. Dieser Begriff ist in seinen Facetten und seiner Wirkung natürlich noch deutlich komplexer und kann in diesem Rahmen nur angerissen werden, jedoch weist er auf einen der wichtigsten Aspekte von Politik hin: Macht. Macht über politische Entscheidungsprozesse, die Themenwahl und verwendete Argumente in Debatten sowie Verteilung von Ressourcen. Aber vor allem auch die an den Diskursen beteiligten Akteure sind wichtig für die Verhandlung von kultureller Hegemonie. In der Zivilgesellschaft sind zwar idealtypisch alle vertreten, jedoch nicht gleich einflussreich. Manchen wird mehr Gehör geschenkt als anderen. Dies beeinflusst die Art und Weise, wie Diskurse geführt werden und welches Ergebnis am Ende steht. Die Aushandlungsprozesse von Hegemonie sind vielfältig und finden zu großen Teilen in Form von Kommunikation statt.
«Communication is key» scheint ein geflügelter Ausdruck geworden zu sein, der von kriselnden Paarbeziehungen bis zur dysfunktionalen Arbeitsumgebung gerne als Ratschlag gegeben wird. Seit einigen Jahren scheint dieser nun in der Politik angekommen zu sein, denn der Aufruf, der Wählerschaft die eigenen Ideen und Personal nur besser kommunizieren zu müssen, ertönt aus verschiedenen sich gegenwärtig in Krisen befindlichen Parteien. Doch wird dabei die Komplexität von Kommunikation unterschätzt: Die Idee von einer sendenden und einer empfangenden Person, die im Sinne der rational choice einen Vorschlag erst anhört, dann abwägt und am Ende eine bewusste Entscheidung fällt, trifft die Realität nicht. Kommunikation findet auf verschiedenen Ebenen und oft stark emotionalisiert statt. Sie ist sowohl Mittel in und als auch Raum für politische Debatten. Wer in diesen Räumen partizipiert, ist unterschiedlich, denn nicht alle möchten oder können: Weil der Zugang nicht für alle offen steht, Informationen nicht umfassend genug vermittelt werden oder der Mehrwert der Beteiligung nicht klar ist. Somit findet Kommunikation nicht in einer Öffentlichkeit statt, sondern eher in einer Vielzahl an Öffentlichkeiten, da diese mehrfach segmentiert ist.1 Kommunikation findet nicht in einem homogenen Raum statt, sondern in verschiedenen Segmenten, welche unterschiedlich adressiert werden müssen – je nach Beteiligten und deren Interessen sowie dem zu verhandelnden Thema. Besonders in politischen Diskussionen ist dieses Grundverständnis zentral, denn es hilft politischen Akteuren – oder macht es ihnen vielmehr überhaupt erst möglich – zu überzeugen und im Idealfall Unterstützung an der Wahlurne zu erhalten. Doch dies gelingt nicht durch Kommunikation allein. Es braucht gute Vorhaben, die sichtbar und positiv assoziiert sind durch einen Mehrwert für das eigene Leben. Mit dem Blick auf die kommunale Ebene zeigen sich etliche Beispiele, wie das Haus des Wissens in Bochum.
Dieser Beitrag befasst sich nicht mit Hegemonie aus einer theoretischen Perspektive. Er nimmt sie vielmehr als Anlass, auf eine Spurensuche zu gehen, wo trotz kriseninduzierter, polarisierter und politisierter Zeiten, die das Individuum scheinbar atomisiert zurückließen, reale Orte sind, wo Hegemonie reflektiert, kritisiert und vielleicht sogar dekonstruiert werden kann. Angelehnt an das Verständnis Antonio Gramscis der kulturellen Hegemonie wird ein Blick auf die Zivilgesellschaft gelegt.
Hegemonie auf der kommunalen Ebene
Stellt man sich nun die Frage, was Hegemonie auf der kommunalen Ebene bedeute, wird klar, dass diese Ebene des politisch-administrativen Systems der Bundesrepublik einzigartig ist und somit auch Hegemonie mit speziellen Mechanismen verhandelt wird. Besonders die Responsivität zwischen Bürger*innen und kommunalpolitischen Entscheidungsträger*innen ist hoch, was den Austausch von Informationen und Ideen erleichtert. Daher haben Bürger*innen ein hohes Vertrauen in Kommunalpolitiker*innen.2 Zusätzlich zeichnet sich Kommunalpolitik in Deutschland durch das Ehrenamtsprinzip aus, da Entscheidungen nicht von Berufspolitiker*innen getroffen werden, sondern von Menschen, die sich ehrenamtlich neben ihrer sonstigen Tätigkeit im Gemeinde- oder Stadtrat engagieren.
Des Weiteren verhandelt Kommunalpolitik wichtige Themen, die Menschen vor Ort betreffen. Entscheidungsfindung und deren Realisierung finden also innerhalb eines begrenzten örtlichen Raums statt. Bürger*innen können aufgrund der hohen Responsivität leicht partizipieren, indem sie ihre Ideen in den (kommunal-)politischen Diskurs eingeben oder auch gegen geplante Vorhaben mobilisieren. Häufig sind Verfahren zur Bürgerbeteiligung in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichem Bindungsgrad möglich, die kommunalpolitische Entscheidungsprozesse beeinflussen können.
Der Hegemon in einer Stadt hat eine andere Position als der Hegemon in einem Staat. Durch relativ geringe Hierarchien zwischen am Diskurs beteiligten Akteuren, ist der Hegemon auf kommunaler Ebene in einer anderen Sprecherposition als in der Bundespolitik. Das Interesse an kommunalpolitischen Entscheidungsprozessen ist geringer, die Medienaufmerksamkeit durch ökonomisch und qualitativ schwächelnde Lokalzeitungen mit begrenzter Reichweite kaum vergleichbar. Kommunikation findet mehr über den direkten Austausch statt. Damit einher geht ein Informationsgefälle, da Kommunalpolitiker*innen – sei es der Oberbürgermeister oder ein Mitglied des Gemeinderats – aus ihrer Tätigkeit deutlich besser über das Vorhaben Bescheid wissen. Dies inkludiert nicht nur konkrete Baupläne, sondern auch institutionelles und prozessuales Wissen, welches besonders in Hinblick auf bürokratische Anforderungen an Planung und Umsetzung zentral ist. Bürger*innen haben dieses Wissen oft nicht.
Hegemonie auf der kommunalen Ebene zeigt sich also anders als auf Bundesebene. Die Kommunikation ist direkt und findet häufig ohne Medien als Mittler statt, was jedoch auch viele Bürger*innen mit weniger umfangreichen Netzwerken über Vorhaben nicht informiert. Es bestehen jedoch verschiedene Maßnahmen, um diese Informationshierarchien zu dekonstruieren und verschiedene Bevölkerungsgruppen zu einer besseren Teilhabe zu mobilisieren. Eine davon ist das Haus des Wissens in Bochum.
Das Haus des Wissens in Bochum
Im Herzen Bochums entsteht gerade vis-à-vis dem Rathaus ein Ort mit viel Potenzial. Nach turbulenten Jahrzehnten verschiedener Transformationsprozesse, induziert vor allem durch den Strukturwandel nach dem Ende der Kohleförderung im Ruhrgebiet und Sorge um Massenarbeitslosigkeit nach den Werksschließungen von Nokia (2008) und Opel (2014), soll nun eine neue politische Strategie zur Bildung einer Wissensgesellschaft wie in vielen anderen Ruhrgebietsstädten auf den Weg gebracht werden.3 In diesem von sozialer Segregation geprägten Ballungsraum4 findet das soziale Leben häufig innerhalb des eigenen Integrationsradius statt. Die A40, welche das Ruhrgebiet als «Ruhrschnellweg» zwischen Ost und West verbindet, wird häufig als «Sozialäquator»5 zwischen dem reicheren Süden und dem ärmeren Norden der Metropolregion bezeichnet. So ist auch die Stadtgesellschaft in Bochum segregiert – wenn auch nicht so stark wie beispielsweise in Essen.
In diesem Kontext entsteht gegenwärtig das Haus des Wissens, welches auf 11.000 Quadratmetern in einem alten Backsteinbauwerk Orte der Bildung wie Volkshochschule und Stadtbücherei mit Einkaufsmöglichkeiten wie einer Markthalle, aber vor allem auch konsumfreien Aufenthaltsmöglichkeiten wie zum Beispiel auf der begrünten barrierefreien Dachterrasse vereint.6 Es wurde von einer breiten Mehrheit im Stadtrat beschlossen, wenn auch mittlerweile Kritik an den gestiegenen Kosten von Seiten einiger Oppositionsfraktionen aufkommt. Als Teil der Bochum Strategie wird das Projekt auch von Seiten der Kommunalverwaltung priorisiert, sicherlich auch aufgrund des starken Engagements des SPD-Oberbürgermeisters Thomas Eiskirch, der die Relevanz des Projektes für die Innenstadtentwicklung und auch die gesamte Stadtgesellschaft betont. Politische Entscheidungsträger im Haupt- und Ehrenamt sowie die exekutive Kommunalverwaltung haben viele Ressourcen in dieses Projekt investiert.
Die Hoffnung der beteiligten Akteure ist, dass dort ein Ort der Begegnung für verschiedene Gruppen der segregierten Stadt entsteht. Vor allem der Zugang zu Bildungsinstitutionen soll niedrigschwellig sein und verschiedenste Zielgruppen ansprechen. Darüber hinaus entsteht mit dem Haus des Wissens aber auch ein Aushandlungsraum, der durch seine vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten auch unterschiedliche Personengruppen anzieht. Dort soll Begegnung stattfinden und ein Raum für Debatten über (Kommunal-)Politik entstehen. Denn Kommunikation braucht Räume, in denen Menschen sich begegnen – real begegnen und nicht nur online. Das Haus des Wissens birgt genau dieses Potenzial, um Hegemonien zu kritisieren und vielleicht sogar zu dekonstruieren. Im Ruhrgebiet, das in Wohnvierteln wie Kindergärten und Schulen sozial segregiert ist, sind diese Orte selten geworden und werden vielleicht gerade deshalb so hoffnungsvoll erwartet.
Fazit
In Conclusio zeigt das Haus des Wissens in Bochum die Relevanz guter kommunalpolitischer Vorhaben, die Begegnungsräume schaffen. Sie bringen verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammen und haben das Momentum – vor allem während Entscheidungsprozessen – Hegemonien zu dekonstruieren. Erfolgreiche Projekte sind sichtbar. Nach seiner Fertigstellung soll das Haus des Wissens Orte der Bildung wie Begegnung beherbergen und durch die Vielfalt der Angebote unterschiedliche Gruppen anziehen. Dort sollen sich – bewusst plakativ gesprochen – alle begegnen. Von dem pensionierten Lehrer, der in der Markthalle regional biologisch angebautes Gemüse kaufen möchte, bis zu Jugendlichen, die einen Ort zum konsumfreien Zeitvertreib suchen. Idealerweise funktioniert der Zugang zu den Bildungsangeboten im Haus barrierefrei und spricht sozialstrukturelle Gruppen an, die bislang solche Angebot nicht nutzten.
Wie das Haus des Wissens in Bochum realisiert und genutzt wird, wird die Zeit zeigen. Es bleibt fraglich, wie andere Kommunen in Zeiten der Haushaltskonsolidierung und steigenden Kosten sich an solchen Projekten ein Beispiel nehmen können. Trotzdem kann an diesem Beispiel illustriert werden, dass für Hegemonien eben nicht nur Kommunikation wichtig ist, sondern reale Räume, wo diese stattfinden kann. Sind diese für möglichst viele Gruppen attraktiv, können sie sich beteiligen und gegenwärtige Repräsentationslücken zumindest minimiert werden. Daher sollte es statt «communication is key» doch vielmehr «visibility is key» heißen. Denn das Haus des Wissens im Herzen der Bochumer Innenstadt übersieht man so schnell nicht.
1 Vgl. Andreas Hepp/ Brüggemann, Michael/ Kleinen-von Königslöw, Katharina/ Lingenberg, Swantje/ Möller, Johanna (Hrsg.): Politische Diskurskulturen in Europa. Die Mehrfachsegmentierung europäischer Öffentlichkeit, Wiesbaden 2012.
2 David Gehne/Wolfgang Wähnke/Kerstin Witte: Gute Beteiligung stärkt die lokale Demokratie. Kommunalpolitik aus Sicht der Bevölkerung. Gütersloh 2019, verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/gute-beteiligung-starkt-die-lokale-demokratie (letzter Zugriff 10.11.24).
3 Vgl. Jörg Bogumil/Rolf G. Heinze/Franz Lehner/Klaus Peter Strohmeier: Viel erreicht – wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet. Essen 2012; sowie Jörg Bogumil/ Rolf G. Heinze (Hrsg.): Auf dem Weg zur Wissenschaftsregion Ruhr. Regionale Kooperationen als Strategie. Essen 2015.
4 Vgl. Aladin El-Mafaalani/Sebastian Kurtenbach/Klaus Peter Strohmeier (Hrsg.): Auf die Adresse kommt es an. Segregierte Stadtteile als Problem- und Möglichkeitsräume begreifen. Weinheim Basel 2015.
5 Z.B. Jörg-Peter Schräpler/Sebastian Jeworutzki/Bernhard Butzin/Tobias Terpoorten/Jan Goebel/Gert G. Wagner: Wege zur Metropole Ruhr. Bochum 2017.
6 Vgl. https://www.bochum.de/Haus-des-Wissens (letzter Zugriff 10.11.24).