«Träumer ist nur ein anderes Wort für Sozialdemokrat» – Ein Plädoyer für mehr sozialdemokratische Utopie

«Träumer ist nur ein anderes Wort für Sozialdemokrat […]. Wir sind die, die schon immer aus Träumen die Wirklichkeit gemacht haben.»1  Mit diesen – zugegeben etwas pathetischen – Worten bewarb sich Andreas Babler im Sommer 2023 auf dem Bundesparteitag der SPÖ, letztendlich erfolgreich, um deren Bundesvorsitz. In unmittelbarer Nachbarschaft dieser beiden Sätze führte der jetzige SPÖ-Vorsitzende aus, welche Träume die österreichische Sozialdemokratie im letzten Jahrhundert verwirklicht habe. Er sprach vom  8-Stunden-Arbeitstag, dem Mutterschutz oder dem kommunalen sozialen Wohnungsbau. Aus heutiger Perspektive mögen uns diese Errungenschaften und viele weitere dementsprechend auf den ersten Blick kaum «träumerisch» vorkommen. Vielleicht sogar wie Policies, die, so moralisch geboten sie für uns Sozialist*innen auch immer gewesen sein mögen, sich eigentlich rein aus rationalen Gründen durchsetzen mussten. Diese Perspektive trügt auf zwei Arten. Erstens sollte beachtet werden, dass sie nicht notwendigerweise vor konservativen oder rechten Backlashs schützt. Zweitens, und für diesen Text entscheidend, ist diese Perspektive dahingehend trügerisch, dass sie außer Acht lässt, dass es sich bei den genannten Errungenschaften nicht immer um weitestgehend anerkannte Policies handelte, sondern tatsächlich um Träume – aber solche einer anderen Zeit. Einer Zeit, die wir nur hinter uns gelassen haben, weil wir aus jenen Träumen die Wirklichkeit gemacht haben.  

Vor dem Hintergrund der multiplen Krisen  unserer Zeit möchte ich dafür plädieren, in der gesellschaftlichen Linken wieder mehr zu träumen, oder um ein in der sozialistischen Ideengeschichte durchaus kontroverses Konzept zu bemühen: mehr Utopie zu wagen.

Utopien sind mehr als einzelne Maßnahmen bzw. Policies. Vielmehr handelt es sich dabei um mehr oder weniger ausgereifte und mehr oder weniger konkret imaginierte Gesellschaftssysteme, in denen emanzipatorische Werte verwirklicht werden. Der Begriff selbst geht auf ein Wortspiel Thomas Morus zurück, der mit seinem 1516 erschienen Werk, in dem eine Insel namens Utopia beschrieben wird, die erste moderne Sozialutopie veröffentlichte und damit das literarische Genre begründete. Utopia setzt sich dabei aus dem altgriechischen «topos»“ (Ort) und dem Präfix «ou-» (nicht) zusammen. Gedanken an den im Englischen gleichklingende Präfix «eu-»“ (gut) waren keinesfalls ungewollt. Die Einordnung der perfekten Gesellschaft als Nicht-Ort, der zeitlich wie räumlich eindeutig vom Status Quo getrennt ist, und die Diskussion darum zieht sich durch die Begriffs- oder Ideengeschichte der Utopie.

Wissenschaft statt Utopie?

Utopisches Denken als politisches Werkzeug, um radikale gesellschaftliche Änderungen zu bewirken, wird von gleich mehreren Seiten angegriffen. Der erste Angriffsvektor dürfte allen Leser*innen aus der alltäglichen politischen Diskussion bekannt sein und entspringt einem genuin konservativen Gedankenmuster, das in einer konkreten Diskussion oft als «Realismus» benannt wird. Hierbei werden jene Ideen und Gesellschaftsideale, die nur weit genug vom Status Quo entfernt liegen, jede hinreichend radikale Idee oder Kritik als «Vision», «Utopie» oder auch gleich, und damit die Utopie begrifflich ins Gegenteil verkehrend, als «Dystopie» verunglimpft. Ziel dieses Musters dürfte es sein, die Diskussion damit abzubrechen, weil man sich mit den Argumenten nicht auseinandersetzen will oder es nicht kann. Diese Diskussionsmuster werden von reaktionären Kräften dazu genutzt, jede Debatte über eine Alternative zum Kapitalismus von vornherein auszuschließen. Diese Tendenz habe sich spätestens im neoliberalen Zeitalter durchgesetzt, in welchem der Kapitalismus zum naturgegebenen Zustand der menschlichen Gesellschaft erklärt wurde. Der Mensch sei laut Bloch und Adorno gar nicht mehr in der Lage, sich das Ganze radikal anders vorzustellen.2 Wright beschreibt, dass vor dem derzeit hegemonialen Neoliberalismus wenigstens Alternativen zum Kapitalismus denkbar gewesen seien, auch wenn sie natürlich nicht von jedem*r für erstrebenswert gehalten wurden. Allein die Vorstellung, dass Anderes möglich sei, mag schon für Reformen in die richtige Richtung reichen. Die Vorstellung der radikalen Veränderung wirkt dann als Drohkulisse. 

Trotz der per se debattenfeindlichen Ausrichtung der konservativen Kritik am Utopiebegriff, weist Wright darauf hin, dass sie nicht gänzlich ignoriert werden sollte. Die Konservativen hätten zumindest dahingehend einen Punkt, dass in so mancher ausgelebten Utopie, gerade wenn sie revolutionär durchgesetzt wurde, die negativen Folgen die emanzipatorischen Fortschritte überwogen hätten3. Dass dieser Standpunkt gegen radikale gesellschaftliche Umwälzungen aus Sicht von Konservativen und Neoliberalen nur selektiv zu gelten scheint, wie die kapitalistischen Schocktherapien nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus zeigen, spricht an dieser Stelle nicht gegen das Argument, sondern nur gegen die entsprechenden Politiker*innen.

Linke, egal ob reformistisch oder revolutionär eingestellt, teilten und teilen diesen Pessimismus über die rationale Steuerbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zwar im Allgemeinen nicht, dennoch gab es auch in der sozialistischen Ideengeschichte klare Kritik am utopischen Denken. Für Marx und Engels war diese Kritik von grundlegender Bedeutung, um den damals neuen Marxismus zu charakterisieren, von vorangegangenen, frühsozialistischen Strömungen abzuheben und als Wissenschaft zu etablieren, wie der berühmte Aufsatz «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» von Engels zeigt. Die teilweise polemische Kritik, die auch im Manifest der kommunistischen Partei zu finden ist, richtet sich gegen den utopischen Sozialismus von Autoren wie etwa Henri de Saint-Simon, Charles Fourier, Robert Owen und anderen. Dabei handelt(e) es sich um eine Strömung, der es laut Engels darum ging, das Leben aller Menschen gleichermaßen zu verbessern, indem der Sozialismus «Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit»4 sei. Die herrschenden Klassen müssten nur davon überzeugt werden, dass der Sozialismus für alle gut sei, dann würde er auch eingeführt. Dieses Verständnis führe neben Naivität und Unwissenschaftlichkeit auch dazu, dass aus dem Absolutheitsanspruch jeder einzelnen Utopie etwas Sektenhaftiges entstünde, das im Klein-Klein stecken bleibe, anstatt die gesamte Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Dies konnte auch empirisch beobachtet werden: Owens führte mehrere sozialistische Siedlungsexperimente durch, die allesamt mehr oder weniger scheiterten. Marx und Engels setzen dem den wissenschaftlichen Sozialismus entgegen, wonach «nicht die Zukunft lockt, [sondern] die Gegenwart zwingt»5, die Proletarier also in einem Klassenkampf den Sozialismus erstreiten und die Geschichte dialektisch-materialistisch aufgefasst werden müsse. Sozialismus sei nicht die Beschreibung einer möglichst vollkommenen Gesellschaft, weil sich diese sowieso gemeinsam mit der Entwicklung des Kapitalismus wandele, sondern eine Kritik und ein Untersuchungswerkzeug des Klassenwiderspruchs und seiner Lösungen. Die konkreteste Forderung, zu der Engels und insbesondere Marx sich an dieser Stelle hinreißen lassen wollten, war die doch eher allgemeine der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. 

Eine undogmatische sozialistische Kritik an der Utopie ist in den Werken der ersten Generation Kritischer Theoretiker*innen zu finden. Diese ist nicht so absolut wie jene bei Engels. Utopien wird durchaus ein Wert zugeschrieben. Dieser bestünde darin, dass sie als negative Utopie zur Kritik und Reflexion der Verhältnisse taugten.6 Skeptisch waren die Frankfurter*innen jedoch mit Blick auf die Realisierbarkeit von Utopien und die Fähigkeit der Menschen heute, sich überhaupt etwas radikal anderes vorzustellen. Vielmehr betonte Theodor W. Adorno im Gespräch «Möglichkeiten der Utopie heute» mit Ernst Bloch, dass die Utopie zwar nicht «ausgepinselt» werden dürfe, weil wir nicht wissen, was das Richtige sei, es aber auch nicht völlig leer gelassen werden dürfe, weil damit das utopische Bewusstsein – das Bewusstsein, dass es anders, besser sein könnte – verloren gehe. Am Beispiel der Sowjetunion konstatierte er, dass ein Sozialismus ohne utopisches Denken zum Selbstzweck und damit zum Unterdrückungsmechanismus statt zum emanzipatorischen Werkzeug verkomme.7

Wissenschaft und Utopie: Potenziale utopischen Denkens für eine moderne Linke

Der Utopiebegriff erlebte in den vergangenen Jahren eine Renaissance in der linken Debatte. Im deutschen Kontext ist das sicherlich auf Klaus Dörres Buch Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution von 2021 zurückzuführen. International beachtet, beschäftigte sich Erik Olin Wright, auf den auch Dörre sich bezieht, seit dem berühmt-berüchtigten «Ende der Geschichte» von Fukuyama mit emanzipatorisch-utopischem Denken. Damit wollte Wright der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Neoliberalismus etwas entgegensetzen, woraus im Laufe der letzten Jahrzehnte das Konzept der «Realutopien» entstanden ist. 

Darunter versteht Wright Institutionen, die emanzipatorische Ideale verkörpern, gleichzeitig aber mit dem oben beschriebenen konservativen Argument nicht kollidieren, weil ihre Externalitäten wohlüberlegt sind. Realutopien sind dabei Institutionen von verschiedener Tragweite, die schon in den heutigen Verhältnissen im Kleinen angewandt werden können und durch ihren Erfolg Druck auf andere Institutionen aufbauen, ebenfalls emanzipatorisch zu werden. Als Beispiele nennt und beschreibt Wright prominent staatliche Institutionen wie eine partizipative städtische Haushaltsplanung, privat organisierte Angebote wie Wikipedia, wirtschaftliche Projekte wie von Arbeitern selbstverwaltete Kooperativen oder das bedingungslose Grundeinkommen.8 Zentral ist neben dem Widerspruch von Traum und Praxis, dass schon die allgemein anerkannte Annahme über die Möglichkeit anderer, besserer Institutionen zu Veränderungen führen kann.

Klaus Dörre füllt dieses Konzept mit Leben, indem er in seinem Buch einen bunten Strauß an vergleichsweise detailliert ausgearbeiteten Institutionen beschreibt. Manche wirken eher wie ferne Träume, andere ließen sich, zumindest theoretisch, schnell umsetzen. Charakteristisch für seine Utopie ist, dass diese im Angesicht einer «Realdystopie», der Klimakatastrophe geschrieben wurde. Gerade in der Nachhaltigkeitsdebatte spielen Utopien heute eine wichtigere Rolle, weil von ihnen im Angesicht immer neuer Horror-Meldungen Inspiration und Hoffnung ausgehen können. Anstatt sie jedoch als Blaupause zu betrachten, die möglichst genau nachzubilden sei, sollten Utopien als Kompass verstanden werden, der die grobe Richtung vorgibt, aber – wo in der Realität nötig und wünschenswert – Abweichungen zulässt.9

Utopie in der politischen Praxis

«Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist.» In wohl keinen anderen Satz des Hamburger Grundsatzprogramms der SPD werden so viele Hoffnungen gelegt, keiner wird so oft zitiert.  Dennoch muss man ihn, da nirgends beschrieben wird, wie man denn die eigene dauernde Aufgabe konkret verwirklichen möchte, wohl als ein rein innerparteiliches Signal zur Zufriedenstellung der Partei-Linken verstehen. Die deutsche Sozialdemokratie heute scheint keine echte große Utopie mehr zu haben.  Vielmehr steht sie in ihrem Kernbereich der sozialen Gerechtigkeit für mehr oder weniger progressive, arbeitnehmer*innenfreundliche Policies und hangelt sich so von Wahl zur Wahl. 2021 wurde plakatiert, dass der Mindestlohn doch bitte 12 Euro betragen solle, 2025 stehen dann halt 15 Euro oder mehr auf dem Plakat. So geboten das dann auch jeweils sein mag, ein langfristiger Fortschritt ist es nicht. Vielleicht taugen in diesem Kontext sogar die Grünen, denen es im Sommer 2024 eigentlich auch nicht viel besser geht, als Beispiel: Um Menschen langfristig an sich binden zu können, braucht es auch langfristige politische Ziele, die jederzeit mit der Partei verbunden werden. Eine linke Partei, die bei Visionen zum Arzt geht, wird in der aktuellen politischen Landschaft, die von Populisten dominiert wird, langfristig wirklich zum Pflegefall. 

Viele scheinen das Gefühl zu haben, dass die einzige Partei, die tatsächlich etwas am Status Quo der eigenen (als schlecht wahrgenommenen) Lebensrealität ändert, eine rechtsextreme ist. Das ist zwar weder eine Entschuldigung dafür Faschist*innen zu wählen, noch eine Alleinerklärung, aber ein Faktor für die Popularität der AfD dürfte es sein. Es ist also an der Zeit, dass sich die Sozialdemokratie wieder langfristige Ziele, auch abseits des nächsten Regierungsprogramms gibt und – was viel wichtiger ist – diese auch nach außen als Gesellschaftsutopie verkauft! Neben großen Erzählungen können dabei auch die beschriebenen Realutopien eine wichtige Rolle einnehmen. Die innerparteiliche, innerlinke Kraft, die mit gemeinsamen politischen Zielen einhergeht, darf nicht unterschätzt werden. Linke Bündnisse und Mobilisierung für gemeinsame gesellschaftliche Ideale dürften sehr viel leichter zu bewerkstelligen sein als für die doch oft eher uninspirierte Tagespolitik.

 Mit diesen Ausführungen soll weder ein linker Dogmatismus begründet werden, noch ergibt sich daraus unmittelbar die Notwendigkeit für eine linkere Politik, auch wenn dies meiner Meinung nach wünschenswert wäre. Man kann und sollte entsprechend des Kompassmodells Utopien nicht dogmatisch auslegen, sondern sie als Referenzpunkt für die eigene Tagespolitik anlegen.    Ebenfalls geht es nicht darum, in einen Populismus vereinfachter Lösungsvorschläge zu verfallen. Vielmehr geht es darum, der Öffentlichkeit ein sehr viel konkreteres und langfristiges Ziel vorzustellen, nach dem man strebt. Es wäre aber etwas, das man den wirkmächtigen Dystopien oder dystopischen Prognosen unserer Zeit (seien es rechte Hirngespinste wie «Deutschland schafft sich ab» und allem, was danach kam, oder wissenschaftlich fundierte Vorhersagen von der Klimakatastrophe) entgegensetzen könnte. Eine linke Utopie kann  Hoffnung spenden und dadurch politisch wirkmächtig werden. 

1 Andreas Bablers Rede zur Bewerbung um den Parteivorsitz der SPÖ, 03.06.2023,  https://kontrast.at/babler-parteitag-rede/ (20.6.2024).

2 Ernst Bloch, Theodor W. Adorno:  Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht (1975). Erschienen in: Rainer Traub und Harald Wieser: Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt am Main 1975.

3 Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus.  Frankfurt am Main 2017.

4 Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Friedrich Engels. Zitiert aus MEW Band 19. 4. Auflage. 1973. http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_177.htm (20.6.2024).

5 https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/vom-utopischen-sozialismus-zur-sozialistischen-utopie-3572/ (20.6.2024).

6 Ernst Bloch, Theodor W. Adorno:  Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht (1975). Erschienen in: Rainer Traub und Harald Wieser: Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt am Main 1975.

7 ebd. 

8 Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus.  Frankfurt am Main 2017.

9Marius de Geus: Ecotopia, Sustainability, and Vision. 2002.