Editorial – Von der «Krisentheorie des Funktionierenden» zu einer «Praxistheorie des Möglichen»Editorial –

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«Wie ist es möglich, dass allein schon die Vorstellung einer anderen Organisationsform gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialer Beziehungsweisen heute geradezu unmöglich erscheint?»1 Diese Frage werfen die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung anlässlich des 100. Jahrestages des Bestehens ihrer Institution auf und setzen sie als eine der Leitfragen, die es in den nächsten 100 Jahren des Bestehens des Frankfurter Instituts zu bearbeiten gilt. Die Gründung der inzwischen traditionsreichen Wissenschaftsinstitution fiel noch in die häufig als «Zeitalter der Ideologien» bezeichnete Epoche, deren Ende auf die Niederschlagung des deutschen Faschismus beziehungsweise spätestens auf den etwa ein halbes Jahrhundert später besiegelten Niedergang des Kommunismus sowjetischer Prägung datiert wird. 

Doch mit dem «Ende der Geschichte»2 kam auch das Ende der Träume und der Versprechen – zumindest, was liberal-kapitalistische und sozialdemokratisch-sozialistische Theoriebildung der «westlichen» Staaten anging. Vertreter:innen der sozialdemokratisch-sozialistischen Theorie mussten sich ideologisch sowie praktisch von dem Schock des endgültigen Zusammenbruchs des sozialistischen Versuchs erholen. Gleichzeitig mussten sie sich zum Teil auch ihre Blindheit gegenüber den Verbrechen der sowjetischen und «realsozialistischen» Machthaber eingestehen, denen nicht nur Millionen von Menschen zum Opfer fielen, sondern die auch alle in Ost(-mittel-)europa vorher bestehenden nicht-leninistisch-stalinistischen sozialistischen Theorieansätze unmöglich zu machen schienen. Vertreter:innen der liberal-kapitalistischen Theorie – nun ihres Systemkonkurrenten entledigt – waren nun auch der Pflicht entbunden, ihre Vorstellungen im Ideenwettbewerb zu rechtfertigen. Kapitalistische «Schocktherapie» im «Osten» und neoliberale Arbeitspolitik im «Westen» hinterließen «Abgehängte» hier und solche mit «Abstiegsängsten» dort. Zwar ist in den Staaten Ostmitteleuropas, die der europäischen Wirtschaftszone angehören, im Zuge der «Westbindung» eine bürgerliche, urbane Mittelklasse entstanden, deren Lebensstandards sich innerhalb der letzten 30 Jahre massiv gebessert hat.3 Doch es ist eben diese Mittelklasse in Europa und den Vereinigten Staaten, die aus – materiell begründeten oder ideologisch befeuerten – Abstiegsängsten anfällig ist für die Versprechungen autoritärer Ideologien.4 

Die kapitalistisch-liberale Erzählung steckt in einer Hegemoniekrise und verfängt wohl nur noch in gewissen Milieus in den Vereinigten Staaten sowie bei «Tech-Bros» oder FDP-ErstwählerInnen, die den «Investment»-Werbungen vor YouTube-Videos Glauben schenken. Aber weder das Aufstiegsversprechen der (sozialen) Marktwirtschaft und erst recht nicht fehlende überzeugende sozialistisch-sozialdemokratische Narrative einer gerechten Gesellschaftsumgestaltung können der von Abstiegsängsten geplagten Mittelklasse eine Alternative bieten. Geschweige denn der wachsenden Gruppe an prekär Beschäftigten, illegalisierten Migrant:innen und Geflüchteten oder perspektivlosen jungen Erwachsenen in der abgehängten Provinz. Während linke und liberale Kräfte Abwehrkämpfe um demokratische oder sozialpolitische Errungenschaften führen (oder Europawahlkämpfe, deren einziges Thema durch die Parteien hinweg ein diffuses «joa, gegen Rechts halt» ist), scheinen die einzigen «aktiven», «handlungswirksamen» Alternativen von Vertreter:innen autoritärer Ideologien zu kommen: seien es Rechtsextreme, Islamisten oder imperiale Autokraten à la Putin. Und wenn es doch mal diskursive Interventionen von links gibt, dann erfolgt dies zumeist auf populistische Weise oder es werden regressive Tendenzen manifestiert oder gar perpetuiert. 

Gefährlich und attraktiv werden die genannten extremistischen Ideologien vor allem, da sie eben keinen Rückfall «ins Mittelalter», in «den Steinzeit-Islam» oder «1933» bedeuten – alles Metaphern, die in diesem Kontext gerne feulietonistisch bedient werden –, sondern dass sie sich den Spielregeln der globalisierten, technisierten, vernetzen Moderne anpassen. Russische Telegram-Bots, die Hamas-Charta von 2017, die sich liest, als hätte sie ein:e Student:in einer amerikanischen Eliteuniversität geschrieben, oder rechtsextreme TikTok-Übernahmen – all das sind keine modernen Anachronismen in vormodernen Ideologien. Autoritäre, antidemokratische Ideologien reagieren auf gesellschaftliche und materielle Herausforderungen der Zeit und präsentieren scheinbare Lösungen, bedienen sich moderner Massenmedien und Propagandamittel sowie Diskursmustern.

Demgegenüber scheint es, als wären liberale und linke Kräfte nicht nur technisch und kommunikativ in den frühen Facebook-Zeiten hängen geblieben. Sie bieten auch kein klar erkennbares Narrativ, keine rahmende Erzählung, die eine positive – oder zumindest handlungsmächtige – Perspektive für die Zukunft bilden würde. Während die Kohäsionskraft des liberal-kapitalistischen, meritokratische Versprechen von «sozialem Aufstieg» schwindet und die durch neoliberale Reformen angefressene Mittelklasse sich eher vor dem (vermeintlichen oder tatsächlichen) «Abstieg» wehrt, scheinen linke Kräfte gleichzeitig keine Antwort für die Gruppe zu haben, denen dieser  «Aufstieg» schon immer verwehrt blieb. Abwehrnarrative – vor dem Klimawandel, Wohlstandsverlust, Krieg – oder, wie in der vergangenen Europawahlkampagne, vor dem Verlust demokratischer Rechte, dominieren hier. Diskursiv in die Ecke gedrängt zur Verteidigung des tagtäglich Ungerechtigkeiten und Ausschlüsse produzierenden Status Quo fehlt es besonders linken Kräften an Kraft und Mut, Perspektiven aufzuzeichnen, die über diesen Zustand hinausreichen und das gegenwärtig Undenkbare denkbar machen: eine andere, solidarische «Organisationsform gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialer Beziehungsweisen»5, wie es das IfS nennen will.

Wenn linke Politik Alternativen schaffen und eigene Themen setzen will, anstatt immer nur den neuen rechten Diskurswirrungen hinterherzuhecheln oder diese im schlimmsten Fall noch zu übernehmen, muss sie einen Gesellschaftsentwurf präsentieren, der mehr bietet, als nur die «Verhinderung des Schlimmsten». 

In der Ausgabe vom 14. März 1903 des  «Vorwärts» – damals wie heute Parteizeitschrift der SPD – schrieb der anonyme Autor eines programmatisch aufgeladenen Nachrufs auf den 20 Jahre zuvor verstorbenen Karl Marx: 

«Denn was ist es in der Tat, das uns vor allem die innere sittliche Kraft gibt, die größten Unterdrückungen, wie ein jahrdutzend des Sozialistengesetzes, mit diesem lachenden Mut zu ertragen und abzuschütteln? […] Wenn die heutige Arbeiterbewegung, allen Gewaltstreichen der gegnerischen Welt trotzend, siegreich die Mahnen schüttelt, so ist es vor allem die ruhige Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der objektiven historischen Entwicklung, die Einsicht in die Tatsache, daß „die kapitalistische Produktion … mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Expropriation“ [MEW 23, S. 791, Anm. d. Red.] – nämlich: die Expropriation der Expropriateure, die sozialistische Umwälzung – erzeugt, diese Einsicht ist es, in der sie die feste Bürgschaft des schließlichen Sieges erblickt und aus der sie nicht nur den ungestüm, sondern auch die Geduld, die Kraft zur Tat und den Mut zur Ausdauer schöpft.»6

Nun ist der «Histomat» schon lange passé und es geht auch nicht darum, in einen vulgärmaterialistischen Geschichtsdeterminismus zu verfallen. Aber dieses Zitat kann auch als Inspiration dafür dienen, dass eine Zukunftserzählung, die keine unerreichbare Utopie darstellt, sondern deren Erfüllungsgrundlage die Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse bildet, für die linke Bewegung auch gegenwärtig unerlässlich ist.

Der anonyme Autor des 120 Jahre alten Artikel war übrigens wohl eine Autorin, und keine Unbekannte: die im praktischen wie theoretischen Sinne internationale und internationalistische Rosa Luxemburg prägte im gleichen Text ihr geflügeltes Wort von der «revolutionären Realpolitik» – neben den ebenfalls in dieser Hinsicht inspirierenden Texten anderer großer sozialistischer und sozialdemokratischer Denker:innen wie beispielsweise Clara Zetkin, Eduard Bernstein und Karl Kautsky eine Lektüreempfehlung auch für heutige Sozialdemokrat:innen?

Unsere Lektüreempfehlung für heutige Sozialdemokrat:innen und alle anderen, die dieses Heft in der Hand halten, sind aber zunächst die Beiträge unserer Autor:innen. Nachdem sich die Beiträge der letzten Ausgabe besonders mit der Analyse und dem Bedrohungspotential rechter Ideologien befasst haben, wollten wir uns in dieser Ausgabe der «Jungen Perspektiven», angelehnt an das Titelthema der Gesamtausgabe, mit der Frage beschäftigen, welche Antworten die sozialdemokratisch-sozialistische Bewegung auf die Gefährdung der Demokratie geben kann. Umgetrieben haben uns dabei die Fragen, mit welcher Programmatik die politische Linke Wähler:innen erreichen kann, die sich von ihr abgewandt haben, wie linke Erzählungen auf Höhe der Zeit aussehen könnten und an welchen Sollbruchstellen des Systems progressive Analysen ansetzen sollten. Nach einer «Krisentheorie des Funktionierenden» sollte eine «Praxistheorie des Möglichen»7 folgen.

Am Portfolio unserer Ausgabe zeigt sich aber auch: dieser Versuch ist nicht einfach. Viele Texte haben trotz des thematischen Schwerpunkts auf Antwortversuche auch große Teile voll kritischer Reflexion über die gegenwärtige Lage und stecken nur vorsichtige Leitlinien für zukünftige Antwortmöglichkeiten ab. Viele Autor:innen haben sich in der aktuellen politischen Situation auch nicht in der Lage gesehen oder es nicht gewagt, einen Text zu schreiben, der positive Alternativen aufwirft – dies spiegelt sich auch in der Kondensiertheit unserer diesmaligen Ausgabe wider. Dennoch gibt es fünf Beiträge, die Denkanstöße für eine Politik der langen Linien liefern. 

Den Auftakt macht die SPD-Bundestagsabgeordnete Nadja Sthamer, die in ihrem Beitrag für die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit mehr Mut zur Empathie, Haltung und Veränderung als Essenz einer modernen linken Politik fordert. Daran anschließend zeigt Marina Guldimann, dass die soziale Ungleichheit und die derzeitige Sparpolitik die Demokratie bedrohen und entwickelt Leitlinien für eine linke finanzpolitische Erzählung gegen neoliberale Mythen. Eine internationale Perspektive steuert Mateusz Merta bei, der anhand des Beispiels von Polen Gefahren und Chancen für die politische Linke erörtert. Diesen Beiträgen schließen sich zwei theoretische Texte an. Moritz Stockmar plädiert für mehr Mut zum utopischen Denken innerhalb der Sozialdemokratie. Und Hendrik Küpper entfaltet anlässlich des 300. Geburtstags von Kant ideengeschichtlich fundierte Thesen, die der Frage nachgehen, was die politische Linke von diesem lernen könnte. Auch die Beiträge von Ludger Santel und Lisa Heidenreich in der Rubrik «Hochschulperspektiven» sowie die Rezensionen von Laura Steinbrück, Lina-Marie Eilers und Pauline Nöltge sind Teil dieser Ausgabe.

Diese und weitere Texte finden sich auch online auf der Internetseite der «Jungen Perspektiven» (www.junge-perspektiven.de). Die Seite befindet sich momentan noch im Aufbau, die Texte der letzten Nummern werden nach und nach ergänzt. Außerdem sind die neuesten Nachrichten zu den «Jungen Perspektiven» auf unserem Instagram-Account (@jungeperspektivends) zu finden. Wer Seite und Account aufmerksam verfolgt, wird dort in Zukunft exklusive Texte sowie die originalsprachlichen Versionen unserer übersetzten Texte finden. Wir möchten mit der Seite ein Forum und ein Archiv schaffen, auf das für Analysen, Ideen und Inspiration zurückgegriffen werden kann, und das so eine fundierte und breite Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Totalität und ihrer Veränderung ermöglicht. 

1 Institut für Sozialforschung: 100 Jahre IfS. Perspektiven, [Diskussionspapier zur Konferenz “100 Jahre IfS. Perspektiven”, 13.-15.09.2023 in Frankfurt am Main], S. 4. 

2 Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man. New York 1992.

3 Man könnte allerdings auch von einer «Ideologie der Mittelklasse» sprechen. So glauben etwa 77% der Pol:innen, dass sie Teil der «Mittelklasse» sind, dabei ist der tatsächliche Anteil gemäß OECD-Richtwerten deutlich niedriger, vgl. Rogalska, Anna: Jesteś w klasie średniej? Oto ile trzeba zarabiać. Poprzeczka coraz wyżej. In: Dziennik Gazeta Prawna, 09.05.2024, https://praca.gazetaprawna.pl/artykuly/9504003,jestes-w-klasie-sredniej-oto-ile-trzeba-zarabiac-poprzeczka-coraz-wy.html (24.06.2024) . Auch in Deutschland glaubt der Großteil der Gesellschaft, er würde der Mittelklasse angehören. Ungleichheitsbarometer: «Wer ist Mittelklasse?». In: Cluster of Excellence. The Politics of Inequality, 11.06.2021, https://www.exc.uni-konstanz.de/ungleichheit/news-und-events/news/aktuelles-detail/ungleichheitsbarometer-wir-sind-mittelklasse/ (24.06.2024). 

4 Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus. Berlin 2018.

5 Institut für Sozialforschung: 100 Jahre IfS. Perspektiven, [Diskussionspapier zur Konferenz «100 Jahre IfS. Perspektiven», 13.-15.09.2023 in Frankfurt am Main], S. 4. 

6 «Karl Marx». In: Vorwärts Nr. 62, 14. März 1903, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1903/03/marx1.htm (24.06.2024). 

7 Institut für Sozialforschung: 100 Jahre IfS. Perspektiven, [Diskussionspapier zur Konferenz «100 Jahre IfS. Perspektiven», 13.-15.09.2023 in Frankfurt am Main], S. 5.