Antisemitismus an Hochschulen 

Seit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 sind die Hochschulen zum maßgeblichen Schauplatz antiisraelischer Proteste geworden. Es hat sich eine globale Protestbewegung entwickelt, die Besetzungen, Camps und Veranstaltungen an Hochschulen organisiert. Über den Umgang mit den Aktivist*innen wird weit über die Hochschulgrenzen hinaus debattiert, in den USA wird er etwa für junge Menschen zu einem maßgeblichen Thema im Präsidentschaftswahlkampf. 

Es lässt sich beobachten, dass die betroffenen Hochschulleitungen unter Verweis auf eine freie Debattenkultur oft nur zögerliche Gegenmaßnahmen ergreifen. Dabei wird jedoch die Perspektive jüdischer Studierender übergangen oder zu wenig berücksichtigt. Denn für sie ist die gegenwärtige Situation an Hochschulen dramatisch und ernst: Es geht darum, ob jüdische Studierende am Campus einen Platz haben, ohne mit Ausgrenzung oder Gewalt rechnen zu müssen.  

Um die Sicherheit von Jüdinnen*Juden zu gewährleisten, braucht es eine neue Entschlossenheit in der Antisemitismusbekämpfung an Hochschulen. Der israelbezogene Antisemitismus muss mit der gleichen Vehemenz bekämpft werden wie andere Formen von Menschenfeindlichkeit. Hochschulleitungen wenden beim israelbezogenen Antisemitismus offenkundig Doppelstandards an, welche dringend einem entschlossenen Vorgehen weichen müssen. 

Antiisraelische Proteste an Hochschulen

Im Folgenden soll zunächst beispielhaft aufgezeigt werden, wie sich die Protestbewegung an deutschen Hochschulen, vor allem in Berlin, entwickelte: Nach dem 7. Oktober kam es zügig zu studentischen Protesten, die auf unterschiedliche Art und Weise auf die Situation in Nahost Bezug nahmen. Exemplarisch steht der Protest am 13. November 2023 an der Universität der Künste (UdK) in Berlin. Dort sammelten sich 50 bis 100 Studierende im Rahmen einer «Performance», um mit blutrot angemalten Händen die Namen getöter Palästinenser*innen zu verlesen. Offenkundig spielten sie damit auf den «Lynchmord von Ramallah» an, bei dem zwei israelische Reservisten gelyncht wurden und später die Täter ihre blutverschmierten Hände von einer jubelnden Menge feiern ließen. Der Hochschulpräsident Norbert Palz versuchte, in den Dialog mit den Studierenden zu kommen, die sich an der Verurteilung der Taten des 7. Oktober durch die UdK störten. Dabei wurde er jedoch dermaßen niedergebrüllt, dass ein Dialog überhaupt nicht möglich war. Ihm wurde dabei zugerufen, dass er den «Kolonialismus und den Genozid» verurteilen solle und die Berichterstattung über den 7. Oktober lediglich deutsche Propaganda sei.  

In den nächsten Monaten kam es bundesweit an vielen Hochschulen zu ähnlichen Protestaktionen, bei denen die typischen «Intifada»- und «From the River to the Sea»-Parolen skandiert wurden. Immer wieder zeigte sich, dass Hochschulleitungen, welche versuchten, mit den Protestierenden in den Dialog zu treten, erfolglos blieben. Die Proteste waren häufig zu aggressiv, laut und mit vehementem Dogmatismus vorgetragen. Jüdische Studierende berichteten in Folge der massiven Protestbewegungen, wie sie sich zunehmend unsicher am Campus fühlten. Sie berichteten, dass sie persönlich angefeindet werden, sich nicht mehr in Vorlesungen trauen und nur noch unter sich bleiben. 

Eine neue Eskalationsstufe wurde am 2. Februar 2024 erreicht: Der jüdische Student Lahav Shapira der Freien Universität Berlin wurde von einem Kommilitonen nach einem Barbesuch in Berlin-Mitte zusammengeschlagen. Zuvor hatte er sich sichtbar an Gegenprotesten zu antiisraelischen Demonstrationen an der FU beteiligt, sodass der Kommilitone ihn in einer Bar wiedererkannte und angriff. In einer ersten Reaktion auf X (ehemals Twitter) schrieb die FU: «Wir sind tief betroffen. Die Freie Universität Berlin steht für Offenheit und Toleranz und distanziert sich von jeglicher Form von Hetze und Gewalt.» Dass sie nach einer solchen antisemitischen Tat den Antisemitismus nicht klar benannte, sorgte für Entsetzen. 

Hanna Veiler, die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion (JSUD), berichtete, dass dieser Angriff für jüdische Studierende nicht überraschend gewesen sei. Es sei ihnen klar gewesen, dass nach all den antisemitischen Worten an Hochschulen auch Taten folgen würden. Sie forderte, dass Hochschulpräsidien den Antisemitismus ernster nehmen müssten, schneller reagieren und klarere Grenzen setzen müssten, welche Gruppierungen auf dem Campus nicht toleriert werden. Schon nach einer Besetzung eines Hörsaals an der FU im Dezember 2023 durch antiisraelische Aktivist*innen hatten jüdische Studierenden kritisiert, dass ihnen der Zugang zum Hörsaal verweigert worden sei und die FU zu zögerlich reagiert habe. Der Angriff auf Lahav Shapira war der traurige, antisemitische Höhepunkt der Protestbewegung im Hochschulkontext seit dem 7. Oktober. 

Größere Medienaufmerksamkeit erlangte des Weiteren eine Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften (ISW) an der HU Berlin am 22. und 23. Mai 2024 durch antiisraelische Protestierende. Neben dem Skandieren üblicher Parolen wurde bei der Besetzung des ISW nahezu jede Wand des Instituts mit antisemitischen Parolen beschmiert. Büros von Mitarbeitenden wurden gezielt mit roten Hamas-Dreiecken markiert und teilweise vollkommen verunstaltet. Die roten Dreiecke beziehen sich optisch auf die Markierung von KZ-Insassen durch die Nazis und stellen damit eine Holocaust-Relativierung dar. Der Sachschaden beläuft sich schätzungsweise auf 150.000 Euro. Die Präsidentin Julia von Blumenthal ließ sich zunächst auf eine Vereinbarung mit den Protestierenden ein und duldete die Besetzung. Im Gegenzug sollten die Protestierenden das Institut nach dem Ablauf einer Frist friedlich verlassen. Nachdem weitere Dialogversuche scheiterten, wurde die Besetzung einen Tag später von der Polizei aufgelöst. Unmittelbar danach erklärte die Präsidentin, dass sie beabsichtige, keine Strafanzeigen aufgrund der Beschmierungen zu stellen. Kurze Zeit später revidierte sie unter öffentlichem Druck diese Entscheidung. 

Erneut geriet eine Hochschulleitung danach in die Kritik, dass sie zu zögerlich gehandelt habe. Höchstwahrscheinlich hätte das Präsidium der Humboldt-Universität nicht anderthalb Tage verhandelt, sondern zügig geräumt, wenn es sich um eine Besetzung von Rechtsextremisten gehandelt hätte. Dass die Hochschulleitung die Studierenden zunächst auch noch durch das Ausbleiben von Strafanzeigen privilegieren wollte, ist unverständlich und offenbart bestehende Doppelstandards. Es ist schwer vorstellbar, wie jüdische Studierende das ISW-Gebäude nach der Besetzung noch mit einem Gefühl von Sicherheit betreten können. Ihre Perspektive wurde in den Abwägungen des Präsidiums aber offenkundig nicht hoch genug gewichtet. 

Wenige Tage nach der Besetzung des ISW verkündete die benachbarte TU Berlin, dass mit Uffa Jensen ein neuer Antisemitismusbeauftragter eingestellt wurde. Diese Personalie führte zu massiver Kritik jüdischer Organisationen, u.a. durch die JSUD und den Zentralrat der Juden. Jensen gehört zu den Erstunterzeichnern der Jerusalemer Erklärung, nach welcher der Boykott Israels grundsätzlich nicht antisemitisch sei und die viele Formen des israelbezogenen Antisemitismus legitimiert werden. Die JSUD kritisierte vor allem, dass mit ihnen oder anderen jüdischen Organisationen im Vorhinein der Entscheidung nicht gesprochen worden sei, sodass sie ihre Bedenken hätten teilen können. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die TU Berlin bei der Einrichtung des Antisemitismusbeauftragten ebenso falsche Doppelstandards anwendete. Da solche Awarenessstellen gerade als Anlaufpunkt für eine unterstützende Beratung Betroffener dienen, ist es höchst ungewöhnlich, wenn sie ohne Einbezug von Betroffenen besetzt werden. 

Gegendemonstrationen an Hochschulen

Neben den antiisraelischen Protesten gab es an Hochschulen jedoch auch Demonstrationen, welche sich mit dem Staat Israel solidarisch zeigten. Zügig nach dem 7. Oktober bildete sich eine neue Gruppierung namens «Fridays for Israel», welche sich in Anlehnung an die antisemitischen Positionierungen der internationalen Bewegung von «Fridays for Future» der gegenwärtigen, antiisraelischen Protestbewegung entgegenstellte. Vor allem an den Berliner Hochschulen, aber auch vereinzelt an Hochschulen im gesamten Bundesgebiet machte die Bewegung auf das Schicksal der israelischen Geiseln aufmerksam und verteidigte das Existenzrecht Israels. Während teilweise prominente Persönlichkeiten aus der Politik und Kultur wie Ricarda Lang, Michel Friedman oder Bettina Stark-Watzinger redeten, blieb die Beteiligung oftmals im überschaubaren Rahmen und überstieg durchschnittlich kaum 150 Menschen. Im Gedächtnis blieb gerade der Auftritt von Igor Levit vor der Humboldt-Universität zu Berlin: Er erzählte, er sei kürzlich für seinen Kampf gegen Antisemitismus ausgezeichnet worden. Danach sagte er, er habe als Jude ja gar keine Wahl. Der Kampf, das sei nicht seiner, sondern «euer Kampf», der Kampf der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegen den Antisemitismus. Dass sich offenkundig diese Mehrheitsgesellschaft aber kaum dazu mobilisieren ließ, gegen Antisemitismus und für das Existenzrecht Israels auf die Straße zu gehen, stimmte ihn sehr nachdenklich. 

Neben den Demonstrationen von «Fridays for Israel» gab es auch sehr vereinzelt Demonstrationen von linken Gruppierungen. So gab es in Köln Demonstrationen der Initiative «Jews and Palestinians for Peace», die die Forderungen nach einem Waffenstillstand mit der Forderung nach einer sofortigen Freilassung der Geiseln verband. Diese Initiative junger Menschen war jedoch nicht dezidiert auf den Hochschulkontext bezogen. An der Universität Wien bildete sich am 7. Mai 2024 ein Gegenprotest zu einem antiisraelischen Protestcamp, welches den Antisemitismus des Camps klar verurteilte und gleichzeitig ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinenser*innen forderte. Insgesamt blieben die Demonstrationen gegen Antisemitismus und für das Existenzrecht Israels an Hochschulen jedoch überschaubar. Die antiisraelischen Proteste waren im Gegenzug um ein Vielfaches präsenter im studentischen Leben und hatten ein deutlich höheres Mobilisierungspotential. 

Ausblick: Für ein Ende der Doppelstandards!

Es lässt sich konstatieren: Der universitäre Raum ist für Jüdinnen*Juden heute kein sicherer Ort. Die Hochschulleitungen agieren im Umgang mit antiisraelischen Protesten oftmals zögernd und lassen einen entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus vermissen. Aber gerade dieser ist bitter nötig. Der israelbezogene Antisemitismus muss endlich genauso deutlich bekämpft werden wie andere Formen der Menschenfeindlichkeit. Auch wenn Vergleiche dieser Art unpräzise sein können und häufig genutzt werden, um Fehlverhalten zu relativieren – «Intifada»-Rufe an Hochschulen sind nicht minder unerträglich als die Geschehnisse im Sylt-Video, welche u.a. zu einem Hausverbot einer Teilnehmerin an ihrer Hochschule führten. Bei den Hochschulleitungen gelten aber weiterhin offensichtlich Doppelstandards in der Bekämpfung der unterschiedlichen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Wo sonst «Klare Kante gegen Rechts» gefordert wird, werden beim israelbezogenen Antisemitismus Dialog und Meinungsfreiheit überbetont. Natürlich sind Hochschulen Orte des Dialogs – es ist gerade erwünscht, dass sich an den Hochschulen kritisch mit der israelischen Regierung auseinandergesetzt wird. Aber wenn die Schwelle zum israelbezogenen Antisemitismus überschritten wird, ist die eingeforderte Toleranz verwirkt. Dann kann die Reaktion nur noch die deutliche Ablehnung und der klare Widerspruch sein. Weniger geht es dabei um eine Forderung nach neuer ordnungsrechtlicher oder polizeilicher Härte, sondern um einen Stopp der Doppelstandards. Es ist Zeit für «Klare Kante gegen israelbezogenen Antisemitismus».