Gegen die Leerstelle. Skizze einer antifaschistischen Perspektive auf Nahost.

Irgendwie sind alle Linken antifaschistisch, zumindest ihrem Selbstverständnis nach. Was das allerdings konkret bedeutet, ist selten so eindeutig, wie es die selbstbewusst gerufene Parole: «Siamo tutti antifascisti! – Wir sind alle Antifaschist:innen!» proklamiert. 

Mit Blick auf den Nahen Osten tut sich eine merkwürdige Leerstelle im antifaschistischen Verständnis weiter Teile der globalen wie der deutschsprachigen Linken auf. An Meinungen fehlt es nicht, an Empathie und klarem Denken überall. Ausgehend von einem postkolonial geschulten Verständnis, das die Welt kategorisch in Unterdrücker und Unterdrückte aufteilt, wird die weniger einfache Wirklichkeit passend gemacht: Auffallend viele linke Stimmen schwiegen zum barbarischen Terror-Pogrom der Hamas am 7. Oktober 2023 oder konnten sich lediglich zu einer «ja, aber»-Verurteilung von Gewalt durchringen.1 Die gleichen Stimmen kennen keine Scheu, das militärische Vorgehen Israels in den schärfsten Tönen zu verurteilen.2 Im vorliegenden Beitrag soll der Versuch einer antifaschistischen Perspektive auf die Lage im Nahen Osten unternommen werden, die, statt einer ideologischen Schablone zu frönen, die faktischen Ereignisse ernst nimmt.

An erster Stelle einer solchen Analyse muss für deutschsprachige Linke der Blick auf die Situation in Deutschland und Österreich stehen. Wie bei jeder Eskalation im Nahen Osten sind es auch diesmal wieder unbeteiligte Jüdinnen und Juden, welche die volle Breitseite des aufflammenden Antisemitismus zu spüren bekommen. In einer aufgeheizten Debatte, die weder räumliche noch inhaltliche Unterschiede wahrzunehmen bereit ist, werden Berliner Synagogen und Jüdische Friedhöfe in Wien zu Zielscheiben des Hasses auf den jüdischen Staat. In der Bundesrepublik, Rechtsnachfolgerin des Dritten Reichs, sollte antifaschistischer Konsens sein, gegen diese Welle antisemitischer Gewalt geschlossen vorzugehen. Doch sobald das Wort »«Israel» fällt, scheint vielen Linken das kritische Denken zu versagen. Die Leerstelle antifaschistischer Solidarität bei diesem Thema hängt auch mit der seltsam verschobenen Perspektive auf das Geschehen im Nahen Osten zusammen.

Die Lage vor Ort

Am 7. Oktober 2023 durchbrachen hunderte Terroristen der islamistischen Hamas und anderer Gruppen den Sicherheitszaun um den Gaza-Streifen und drangen in Kibbuzim im Süden Israels ein. Von ihnen selbst angefertigte Aufnahmen zeigen ihr brutales Vorgehen: Mordend, vergewaltigend und folternd zogen sie durch die israelischen Wohngebiete. Die Bilder und Berichte des Pogroms sind kaum zu ertragen. Bei einem Musikfestival schlachteten sie hunderte junge Menschen ab und schändeten Leichen.3 Mehr als zweihundert Menschen entführten sie in den Gaza-Streifen, darunter Kleinkinder, Teenager, ganze Familien, Demente und Shoah-Überlebende.4 Ihr Schicksal ist weiter ungewiss.5 Innerhalb weniger Stunden wurden mehr Jüdinnen und Juden ermordet als an jedem anderen Tag seit Ende der Shoah. 

Israelische Armee und Geheimdienste wurden von diesem Terrorangriff ebenso überrascht wie die Weltöffentlichkeit. Zeitgleich mit der überhastet anlaufenden, militärischen Reaktion der Israel Defense Forces (IDF) lief die gut geölte Propaganda-Maschine der Hamas an. Binnen Stunden fluteten sie das Netz mit Videos ihrer Gräueltaten, nur um nach den ersten israelischen Militäraktionen die altbekannten Opferrollen herauszustellen. In einer zynischen Inszenierung wird das reale Leid der von der Hamas unterdrückten, palästinensischen Zivilbevölkerung zur weiteren Radikalisierung der Israelfeindschaft ausgeschlachtet. Hamas und israelische Armee gleichzusetzen, sobald auch im Gaza-Streifen die Opferzahlen steigen, ignoriert jedoch eine Reihe wichtiger Fakten.

Israelische Militäroperationen verfolgen klar gesteckte Zielsetzungen, die Aktionen werden mit höchster Präzision ausgeführt. Vor Beginn der Bodenoffensive warnte die IDF wochenlang mit Flugblättern, SMS und Social-Media-Beiträgen die zivilen Bewohner:innen des Gaza-Streifens, den Norden des Gebiets zu verlassen und sich in die ausgewiesenen Schutzgebiete im Süden zu begeben.6 Damit erfüllten die israelischen Kräfte die völkerrechtlich vorgeschriebene Auflage, die Zivilbevölkerung so gut wie möglich aus Militäroperationen herauszuhalten. Dass die Evakuierung nicht im erforderlichen Maße zustande kam, lag einerseits an der maroden Infrastruktur. Seit Jahren zweigen die Hamas und andere Terrorgruppen dringend benötigte Hilfsgelder ab, um Waffenlager anzulegen und die unter ganz Gaza befindlichen Tunnelsysteme auszubauen, in denen sich große Teile der terroristischen Infrastruktur befinden.7 Detailliert belegte die israelische Armee etwa, dass die Hamas ihr Hauptquartier im Gaza-Streifen unter das größte Krankenhaus der Region gebaut hatte.8 Hinzu kommt andererseits, dass Hamas-Terroristen mit Waffengewalt Zivilist:innen daran hindern, die ausgewiesenen Schutzkorridore zu erreichen.9 Mitgefühl für die zivilen Opfer kriegerischer Konflikte muss Kennzeichen einer jeden linken, antifaschistischen Position sein. Zu diesem Mitgefühl gehört absolute Klarheit: Das Leid der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen ist allein die Schuld der terroristischen Hamas. 

Staat, Militär, Macht

«Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.»10 Dieser Ausspruch der antifaschistischen Ikone und Shoah-Überlebenden Esther Bejarano ist Orientierung für die Selbstorganisation vieler Antifaschist:innen. Diese instinktive Ablehnung von law and order-Politikschlägt sich häufig auch in der Positionierung zu Israel nieder. Bekannt für seine militärischen Siege und die spektakulären Aktionen seiner Geheimdienste bekannt, wird der jüdische Staat mit konservativen Militärfantasien assoziiert. Eine solche Position verkennt jedoch, dass Israel nicht irgendein Staat ist. Mitgegründet von Shoah-Überlebenden, ist es das erklärte Ziel Israels, einen Schutzraum vor Antisemitismus zu bieten. Für die Überlebenden der deutschen Todesmaschinerie war eindeutig, was heute schnell vergessen wird: Konfrontiert mit einem brutalen Antisemitismus, der auf Vernichtung alles Jüdischen zielte, reichten gewaltlose und zivilgesellschaftliche Ansätze nicht mehr aus. In einer Gesellschaft, die durch ihre Produktionsverhältnisse Antisemitismus hervorbringt, ist das repressive Vorgehen gegen Antisemit:innen angewandte, radikale Gesellschaftskritik.11 Wenn nötig, gehört dazu auch Militärgewalt.

Bereits am Tag seiner Staatsgründung sah Israel sich der denkbar größten Bedrohung ausgesetzt: Alle seine Nachbarstaaten erklärten dem jungen Staat den Krieg. Der folgende Unabhängigkeitskrieg forderte zivile Opfer auf allen beteiligten Seiten. Während die von jüdisch-israelischen Milizen begangenen Massaker Alleingänge radikaler Untergruppen waren und von der zentralen Militärführung umgehend verurteilt wurden, riefen die arabischen Militärführer offen zur Vernichtung von Jüdinnen und Juden auf. Parallel fanden in nahezu allen arabischen Ländern Pogrome und Vertreibungen der dort seit Jahrhunderten lebenden jüdischen Gemeinden statt. Auch viele Araber:innen verließen das Gebiet des entstehenden Israel, teils aus Zwang, teils aufgrund von Versprechungen arabischer Staaten. Dass diese palästinensischen Geflüchteten bis heute Teil des politischen Diskurses sind, liegt vor allem daran, dass die aufnehmenden, arabischen Staaten die Menschen unverändert in Flüchtlingslagern festhalten und ihnen weder eine adäquate Grundversorgung noch gleiche Rechte bieten.12 

Wie in jeder anderen Gesellschaft unter den gegenwärtigen kapitalistisch-nationalstaatlichen Verhältnissen gibt es auch in Israel politische Probleme und Ungerechtigkeiten. Dafür ist eine solidarische Kritik nötig. Doch so wie es «kein richtiges Leben im falschen» gibt, muss auch der Staat Israel im Kontext seiner prekären Existenz beurteilt werden. Die unversöhnlichen Feind:innen Israels führen selbst die progressiven Elemente der israelischen Gesellschaft, wie etwa die weit fortgeschrittene Gleichstellung queerer Personen, als Beweis für die Durchtriebenheit Israels ins Feld und sehen darin eine bewusste Ablenkung von anderen Problemen. Gegen diesen Vorwurf des Pinkwashing hilft nur die unideologische Anerkennung der Realität: Es ist gut, dass in Tel Aviv Jahr für Jahr mit erheblichem Abstand die größte Pride-Demonstration des Nahen Ostens stattfindet. Gleiches gilt für den Vorwurf der vermeintlichen Apartheid: Während es weiter strukturellen Rassismus gibt, ist es dennoch selbstverständlich und richtig, dass arabische Israelis gleichberechtigt an der israelischen Gesellschaft teilnehmen. In allen diesen – und vielen weiteren – Punkten ist Israel längst nicht perfekt, aber einem linken, antifaschistischen Ideal sehr viel näher als etwa der klerikalfaschistische Iran oder das Assad-Regime in Syrien.

Die Feinde Israels

Dieser Kontrast wird besonders im Vergleich mit den Feind:innen Israels deutlich. Der arabisch-muslimische Antisemitismus ist kein Produkt des Konfliktes mit Israel, sondern eine seiner zentralen Ursachen: Aus der Unterdrückung von Jüdinnen und Juden in mehrheitlich islamischen Gesellschaften entwickelte sich in Kombination mit dem modernen europäischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts eine «spezifische Ausprägung von Judenhass.»13 Amin el-Husseini, eine der zentralen Gründerfiguren der palästinensischen Nationalbewegung, arbeitete eng mit den deutschen Nazis zusammen. Dabei verfolgte er einerseits die Absicht, die deutsche Vernichtungspolitik gegenüber den Jüdinnen und Juden Europas weiter zu radikalisieren. Andererseits hatte er von Hitler die Zusage erwirkt, dass auch die etwa 700.000 Jüdinnen und Juden im arabischen Raum zu gegebener Zeit vernichtet werden sollten. Für die jüdischen Kämpfer:innen, viele von ihnen erst kurz zuvor aus der deutschen Todesmaschinerie befreit, war es während des Unabhängigkeitskrieges eine besondere Motivation, gegen einen Nazi-Verbündeten zu kämpfen.14

In diese Kontinuität reiht sich auch die Terrorgruppe Hamas ein, die mit ihrer Attacke den jüngsten Krieg auslöste. Der theokratische Todeskult der Hamas ist nicht erst seit diesem schwarzen Tag für übelste Grausamkeiten bekannt. Frauen sind im Gaza-Streifen in islamistisch-patriarchalen Zwängen und Konventionen gefangen. Die Ideologie der Hamas ist durchzogen von patriarchalem Hass und Sexismus, die sich in den Massenvergewaltigungen am 7. Oktober 2023 Bahn brachen. Doch auch die vermeintlich liberalere West Bank genügt feministischen Ansprüchen kaum. Hinzu kommt eine Realität, die von Gruppen, die sich mit Slogans wie «Queers for Palestine» schmücken, gern unterschlagen wird: Immer wieder machen Vertreter der palästinensischen Bewegung(en) deutlich, dass queere Menschen in einem zukünftigen «befreiten Palästina» keinen Platz haben werden.15 Die Hamas konnte darauf nicht warten und folterte im Gazastreifen schwule Männer.16 

Die brutalen Morde an (jüdisch-)israelischen Kleinkindern und Säuglingen weisen zudem auf eine weitere Dimension hin: den Vernichtungs- und Erlösungsantisemitismus der Hamas. Diesem Antisemitismus geht es nicht um die Schaffung eines palästinensischen Staates, sonst hätten die palästinensischen Vertreter bei einer der bisher sechs Gelegenheiten die teils sehr weit gehenden Kompromissangebote Israels angenommen.17 Stattdessen wird die Ermordung alles jüdischen Lebens als entscheidender Schritt zur Erlösung ausgegeben. Die beliebte Parole «From the river to the sea, Palestine will be free!» («Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein!») drückt nichts anderes als den Wunsch aus, den jüdischen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer komplett zu vernichten. Ein Antifaschismus, der den Schwur von Buchenwald ernst nimmt und «die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln» verfolgt, muss anerkennen: Die Nazischergen von heute sitzen auch in den Tunneln der Hamas im Gaza-Streifen. 

Wie in jedem Konflikt, der über Jahrzehnte andauert, gibt es auch im Nahen Osten kein Schwarz und Weiß. Hell- und Dunkelgrau sind jedoch deutlich zu erkennen. Auf der einen Seite steht der einzige jüdische Staat und Schutzraum gegen Antisemitismus, der sich fortgesetzten Angriffen seiner Nachbar:innen ausgesetzt sieht. Dass dieser Zustand nicht naturgegeben ist, zeigten zuletzt die Abraham-Abkommen, die zur Annäherung zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten führten. Auf der anderen Seite stehen islamistisch-faschistische Terrorgruppen, die auch Zivilist:innen als Ziele ihrer Barbarei identifizieren und ihre Vorstellungen auf brutalstmögliche Art wahrzumachen versuchen.

Antifaschismus ernst zu nehmen bedeutet, kritisch zu bleiben und sich der komplizierten Welt selbst denkend zu nähern. Anders als die unverhältnismäßige und damit antisemitische linke Kritik an Israel suggeriert, ist der kritisch-solidarische Grundsatz einer antifaschistischen Position zum Nahen Osten daher: Antifa heißt Solidarität mit Israel. 

1 Judith Butler: «The Compass of Mourning.» In: London Review of Books 20, 2023.

2 Judith Butler: «Palestinian Lives Matter Too: Jewish Scholar Judith Butler Condemns Israel’s ‘Genocide’ in Gaza.» In: Democracy Now, 26.10.23.

3 Die Verbrechen sind dokumentiert unter: https://www.hamas-massacre.net (5.11.23).

4 Eine Übersicht der Geiseln ist verfügbar unter: https://stories.bringthemhomenow.net (5.11.23).

5 Stand: 9.11.23.

6 Marlena Wessollek: «Israel fordert Zivilisten zu Verlassen von nördlichem Gazastreifen auf.» In: Zeit, 13.10.23.

7 Julio Segador: «Das geheime Tunnelsystem der Hamas.» In: Tagesschau, 27.10.23.

8 RND/dpa/AP: «Kommandozentrale der Hamas liegt unter größter Klinik in Gaza.» In: RND, 27.10.23.

9 Emmanuel Fabian: «IDF: Gaza resident says Hamas preventing evacuations; thousands return north.» In: Times of Israel, 26.10.23.

10 Jürgen Meier-Reese: «Esther Bejarano – Die Stimme gegen das Vergessen.» In: NDR, 19.07.21.

11 Theodor W. Adorno: «Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute.» In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 20. Frankfurt a.M., 2003, S. 364.

12 Stephan Grigat: «Die Einsamkeit Israels.» Hamburg, 2014, S. 14-19.

13 Matthias Küntzel: «Islamischer Antisemitismus.» In: bpb, 30.4.20. 

14 Grigat: «Einsamkeit.» S. 16-17.

15 Nikolas Lelle und Nicholas Potter : «Israel-Bashing at Berlin’s Queer Pride Helps No One – Certainly Not Queer Palestinians.» In : Belltower News, 29.07.22.

16 Natasha Kirtchuk : «Gay man who fled Gaza speaks about Hamas repression.» In : i24news, 10.08.22.

17 Grigat: «Einsamkeit.» S. 41-42.