Wie die deutsche Studierendenschaft das Arbeitskämpfen lernt(e)
Die Geschichte der Studierendenbewegung ist eine Geschichte vieler Kämpfe: Selbstbestimmung,Selbstverwaltung und soziale Gerechtigkeit – die Liste ließe sich lange fortsetzen. Gerade der Arbeitskampf allerdings spielte dabei eher eine Nebenrolle, trotz aller Solidarität mit diversen Streiks anderer Branchen und natürlich mit den Beschäftigten der Hochschulen. Das hat sich in den letzten Jahren allerdings geändert und damit wurde ein neues Kapitel im Geschichtsbuch der studentischen Kämpfe aufgemacht: Das Ringen um den ersten bundesweiten Tarifvertrag für studentische Beschäftigte hat begonnen und könnte schon in diesem Herbst in die heiße Phase gehen. Der Weg dahin war und ist geprägt von Widerständen, Etappensiegen und dem immerwährenden Versuch, ein prekäres System zu verstehen und zu verändern.
Das System: Hochschule und Arbeit
Während Tarifverträge eines der schärfsten Schwerter im Kampf um gute Arbeitsbedingungen sind, so bleiben einige systemimmanente Eigenschaften des Arbeitsplatzes Hochschule von ihnen unberührt. Die hierarchischen Strukturen mit Professor*innen an der Spitze ermöglichen diesen die Kontrolle über Neueinstellungen und Weiterbeschäftigungen. Sie bringen wissenschaftliche und studentische Mitarbeiter*innen in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, das Machtmissbrauch und Ausbeutung begünstigt. Gleichzeitig wirken Ökonomisierungstendenzen als zusätzlicher Ausbeutungs-Katalysator. Der Druck auf Hochschulen, für eine ausreichende finanzielle Ausstattung wahlweise Drittmittel oder Gelder der Exzellenzinitiative einzuheimsen und dafür mit anderen Hochschulen in Konkurrenz zu treten, wird im Forschungsapparat nach unten weitergereicht.
Als wäre diese Zweiklassengesellschaft nicht genug, müssen studentische Beschäftigte selbst in der zweiten Klasse auf weitere Beinfreiheit verzichten. Als einzige Beschäftigtengruppe an den Hochschulen fallen sie in fast allen Bundesländern unter keinen Tarifvertrag. Das bedeutet auch: Keine garantierten Regelungen zu Urlaubszeiten und Lohnzahlungen im Krankheitsfall, keine Mindestvertragslaufzeiten, keine Studierenden in Personalräten und eine Entlohnung, die Studierende auf Jobsuche vor die Wahl stellt: Lebenslauf pimpen oder Lebensunterhalt verdienen? Verstärkend hinzu kommt die doppelte Abhängigkeit, wenn am Schreibtisch der Chefin nicht nur über die Weiterbeschäftigung, sondern auch über die Klausurnote entschieden wird.
All das sind Mechanismen, die jeden Willen zur Veränderung, geschweige denn gewerkschaftliche Organisierung, im Keim ersticken. Dass dieses System fortbestehen kann, ist kein Zufall, es ist staatlich so gewollt, es ist unter anderem direktes Ergebnis der Doppelrolle des Staates als Gesetz- und Arbeitgeber gleichermaßen. Historisch ermöglicht dieser Zusammenhang die gesetzlichen Grundlagen für die Arbeitsverhältnisse an Universitäten, am bekanntesten sicherlich in Form des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) mit dem man seit jeher sowohl Mittelbau als auch studentische Hilfskräfte durch Kettenbefristungen an der kurzen Leine halten und ein wirksames Aufbegehren verhindern konnte. Welche mögliche Rechtfertigung kann es dafür geben, wenn ein Staat und seine Institutionen, denen im Allgemeinen als Arbeitgeber durchaus auch außerhalb des Beamtentums vergleichsweise positive Eigenschaften zugeschrieben werden, als Treiber von Prekarität agieren?
Auch hierfür hat sich die kapitalistischer Verwertungslogik ein Schmankerl ausgedacht: An Hochschulen arbeiten zu dürfen ist ein «Privileg», schlechte Arbeitsbedingungen werden abgegolten durch das Sammeln von Erfahrung, den bereits erwähnten Eintrag im Lebenslauf oder das Aufführen als Mitverfasser*in in Publikationen. So lautet zumindest das Narrativ, mit dem Kritiker*innen ruhiggestellt werden sollen. Eine solch abstruse Verwischung der Grenzen von Qualifikation und Lohnarbeit würde in anderen Branchen niemandem einfallen.
All das betrachtet ist es also wenig überraschend, dass die Arbeitsbedingungen für SHKn an Hochschulen jahrelang kaum Thema und die Büros auch den Mittelbau betreffend weitestgehend arbeitskampffreie Zonen waren. Trotz des öffentlichen Aufschreis, der #wirsindhanna begleitete, blieb die vielfach geforderte Revolution aus, was sich besonders in den letzten Novellierungen des WissZeitVG niederschlug. Sie brachten nicht annähernd die Reform, die sich so viele gewünscht hätten und ließen keinen Zweifel daran: Für eine echte Veränderung des Systems führt kein Weg vorbei an der gewerkschaftlichen Organisierung der Beschäftigten.
Die Systemsprenger: Gewerkschaften und TVStud
Berlin brennt, der Rest pennt – das war einmal. Denn nach der jahrelangen Vorreiterrolle der Berliner TVStud-Bewegung existieren mittlerweile bundesweit über 30 TVStud-Gruppen, und sie alle haben das große Vorbild aus der Hauptstadt. Nach 40 Streiktagen konnten sich die studentischen Beschäftigten dort 2018 endlich durchsetzen und die Blockade des Landes brechen, 15 Jahre Lohnstillstand wurden beendet und der neue Tarifvertrag „TVStud III“ war bald in trockenen Tüchern: Eine Erweiterung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall von 6 auf 10 Wochen, die Erhöhung des Urlaubsanspruchs von 25 auf 30 Arbeitstage jährlich und vor allem: Die Löhne stiegen bis 2022 von 10,98 Euro auf 12,96, eine Erhöhung um mehr als 18 Prozent.
Dieser Tarifabschluss gilt gemeinhin als Startschuss für die bundesweite Bewegung, die seitdem massiv gewachsen ist und sich vor allem vernetzt und professionalisiert hat. Organizing-Workshops, Einzelgespräche mit Kolleg*innen, digitale Vernetzungsstrukturen, gezielte Ansprache politischer Entscheidungsträger*innen, Social-Media-Präsenzen und vieles mehr haben den Weg geebnet für mehrere Etappensiege auf dem Weg zum Tarifvertrag: Die Mehrheit der Landesregierungen spricht sich mittlerweile entweder für eine Verbesserung der studentischen Arbeitsbedingungen oder direkt für den Tarifvertrag aus – Koalitionsverträge liest man mittlerweile besonders aufmerksam, da die Bundesländer den Tarif als Arbeitgeber gemeinsam aushandeln. Und auch auf der gewerkschaftlichen Schiene lassen sich Erfolge verzeichnen. In der letzten Tarifrunde im Herbst 2021 ist es ver.di und GEW gelungen, Gespräche über die Arbeitsbedingungen der studentischen Beschäftigten und eine «Bestandsaufnahme» durchzusetzen.
Letzteres wollte man sich nicht zweimal sagen lassen und hat der Sache kurzerhand selbst angenommen, um die inhaltliche Deutungshoheit durch eine wissenschaftliche Untersuchung der Arbeitsbedingungen zu gewinnen und den Wissenschaftsapparat mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Das Ergebnis ist eine Befragung von TVStud und dem Institut für Wirtschaft und Arbeit (IAW) an der Universität Bremen im Auftrag von GEW und ver.di, an der über 11.000 SHKn teilgenommen haben und die die Argumente der TVStud-Initiative bestätigt: Tatsächlich laufen die Verträge im Schnitt weniger als sechs Monate, gleichzeitig bekommen gut 80 Prozent einen weiteren Vertrag und arbeiten im Schnitt aktuell zum dritten Mal auf derselben Stelle, also mit dem dritten Vertrag in der «Befristungskette». Noch schlimmer: 14 Prozent haben schon vor Vertragsbeginn unbezahlt gearbeitet, 39 Prozent machen auch mit Vertrag regelmäßig unbezahlte Überstunden und 3 von 4 Studierenden sind trotz Job armutsgefährdet. Auch mit dem Mythos des SHK-Jobs als Qualifizierungsmöglichkeit wird aufgeräumt: 90 Prozent der Studierenden gaben an, mit dem Job ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Nicht umsonst trägt die Studie also den Titel «Jung, akademisch, prekär».
Das erklärte Ziel der TVStud-Bewegung für 2023 ist es nun, den Rückenwind mitzunehmen und sich bis zur neuen Tarifrunde im Herbst möglichst gut aufzustellen, um dann auf alle Szenarien bis hin zum Streik vorbereitet zu sein. Aus mehreren Gründen lohnt sich ein Blick auf den weiteren Verlauf des TVStud-Kampfes.
Der Kampf nach oben: 2023 war ein Jahr harter Tarifkonflikte, die in der Regel gerade im Bezug auf die Gehälter mit Kompromisslösungen geendet haben. Eine Kompromisslösung im Bezug auf TVStud gibt es aber nicht, ein halber Tarifvertrag müsste erst noch erfunden werden. Es bleibt zu hoffen, dass TVStud und die verhandlungsführenden Gewerkschaften einen langen Atem haben.
Der gemeinsame Kampf der Mitte: Gewerkschaften und TVStud begegnen sich bisweilen auch mit Skepsis, bei TVStud hofft man auf solidarische Unterstützung der eigenen, noch jungen Bewegung, während Gewerkschaften gerne einen höheren Organisationsgrad unter den SHKn sehen würden. Von einem studentischen Tarifvertrag profitieren aber am Ende nicht nur die betroffenen Studierende. Gewerkschaften wissen auch, dass gewerkschaftliche Organisierung im Hochschulbetrieb nicht von 0 auf 100 funktioniert. Wer schon als Studierender Solidarität erfährt, Gewerkschaften an seiner Seite wähnt und die Erfolge von Mitbestimmung am Ende auch auf dem Konto und im wohlverdienten Urlaub spürt, wird dies auch während einer möglichen akademischen Laufbahn im Anschluss nicht vergessen. Der Kampf für einen TVStud ist also ganz klar auch eine gute Basis für einen starken Organisationsgrad im Mittelbau und für viele Studis Eingangstür zum aktiven gewerkschaftlichen Engagement.
Der Kampf von unten: Vor dem Hintergrund geringer Wahlbeteiligungen bei Hochschulwahlen und vermehrten Angriffen aus konservativer Richtung auf die Institution der Verfassten Studierendenschaft stellen sich Fragen nach Verankerung und Einfluss der studentischen Selbstverwaltung in ihrer Basis und damit nach dem Fortbestehen der Studierendenschaft als Kollektiv. Nachdem etwa die Proteste gegen Studiengebühren in vielen Bundesländern mit dem Mythos der nicht mehr benötigten Selbstverwaltung aufgeräumt haben, wäre ein Erfolg der TVStud-Bewegung, die zu großen Teilen auch durch Asten und teils Fachschaften gestützt wird, ein wichtiges Erfolgserlebnis. Die tatsächliche Bereitschaft der Studierendenschaft zur Beteiligung am Arbeitskampf bleibt jedoch, trotz aller Bemühungen, die große Unbekannte.
In Anbetracht der zwei großen Baustellen WissZeitVG und TVStud wird der Bedarf für eine Doppelstrategie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen an Hochschulen immer deutlicher. Während Tarifabschlüsse nur auf der Straße und in den Büros, Bibliotheken und Laboren vor Ort über Gewerkschaften erkämpft werden können, braucht es für eine ausreichende Novellierung des WissZeitVG den Weg über die Parlamente und den Gewerkschaften nahestehende politische Kräfte. Die Bedeutung der Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen an Hochschulen dürfen nicht unterschätzt werden und müssen auch von der Sozialdemokratie sehr ernst genommen werden. Sie gehören, äquivalent zu den Kämpfen anderer teilweise neu entstehender oder stark wachsender, prekärer Berufsfelder wie Lieferdiensten und Pflegekräften, zur Antwort auf die Frage, ob und wofür SPD und Gewerkschaften auch im 21. Jahrhundert noch gebraucht werden. Die Antwort kann nur das Leben eines alten Prinzips sein: Eine Sozialdemokratie mit klarer Haltung als parlamentarischer Arm der organisierten Arbeitnehmerschaft. Gerade in der jungen Generation kann der Kampf um einen TVStud hierfür eine Feuerprobe werden. Für den gewerkschaftlichen Kampf gilt nach wie vor: «Die einzige gesellschaftliche Macht der Arbeiter ist ihre Zahl.» (Marx). Der Einfluss und die Bedeutung der studentischen Hilfskräfte für das Funktionieren des gesamten Hochschulbetriebes sind nicht zu unterschätzen. Denn wenn plötzlich keine Tutorien mehr stattfinden, Bibliotheken früher schließen und die gesamte Forschung auf die Bremse treten muss, werden auch Professor*innen, Hochschulrektor*innen, Bildungs- und Finanzpolitiker*innen irgendwann nervös.